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Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

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Das Passbild

Ein neuer Ausweis muss her. Eine Erzählung von Regina Kramer über die Tour de Force, ein neues Foto machen zu lassen.

Wer bin ich? Wer will ich sein? Und warum?
Fotokunst: Brigitta Jahn


Am 14. Juli wird sie nach Dublin fliegen. Sie blättert in ihrem Personalausweis.

Bauer Jutta Deutsch Gültig bis 05.21.  Jetzt ist  02.21.
Sie wird neue Fotos machen lassen. Müssen. Aber heute nicht. Sie sieht nicht gut aus. Heute nicht. Die Haare, so blöde. Heute nicht. Kann sie nicht ein Bild von früher nehmen? 
Vier, sieben, elf, dreizehn). Jutta hat 13 Bilder für Ausweise, Bewerbungen, Zulassungen oder zur Erinnerung in einer Schublade gesammelt.

Sie ist 14, der Pony ist sehr schief geschnitten, das hat sie selbst gemacht vor dem Badezimmerspiegel. Sie ist Schülerin und brauchte einen Ausweis für die Straßenbahn. Sie sieht jünger aus als die 14-Jährigen heute.
Sie ist 17 und hat einen Presseausweis für eine Jugendzeitung. Die Jugendzeitung heißt „Hallo“, ihr erstes Interview war ein Gespräch mit Udo Jürgens. Und ja, sie hat blondes Haar.
Jutta findet einen Studentenausweis. Ihre Haare auf dem Bild sind glatt und schulterlang.
Zwei Jahre später, ein Bild, auf dem sie wilde Locken hat. Schön, findet sie immer noch.

Ein schönes Bild ist eines, auf dem man besser aussieht, als in Wirklichkeit

Was ist ein schönes Bild?
Ein schönes Bild, denkt Jutta – und wir reden jetzt nicht von Kunst – ein schönes Bild ist eines, auf dem ich mir gefalle. Auf dem ich schöner aussehe als in Wirklichkeit. Oder wenigstens so ähnlich wie in Wirklichkeit. So wie hier, Jutta hält ein Foto in der Hand: selbstbewusster Blick. Schöne Haare. Schöne Frau. So will sie auf dem neuen Ausweis aussehen. Gültig für die nächsten zehn Jahre.
Für die Beantragung eines Personalausweises bringen Sie folgende Unterlagen mit: ein aktuelles, biometrisches Passfoto.

Ich bin gleich bei Ihnen, sagt der Fotograf. Jutta fährt mit den Fingern durch ihre Haare. Sie will ein bisschen wild aussehen. Bloß nicht lieb. Bloß nicht bieder. Wer heute Jutta heißt, ist nicht jung.
Eine Assistentin stellt die Scheinwerfer so ein, dass das Licht sanft wird. Dann kommt der Fotograf zurück.
Vielleicht ein bisschen den Kopf drehen, ja gut. Und nun direkt in die Kamera schauen. Ein bisschen freundlicher, aber nicht lächeln. Ja, gut.
Sagt der Fotograf.

Jutta weiß nicht, was sie mit ihrem Mund machen soll, wenn sie nicht lächeln darf. Und was muss man fühlen, damit die Augen freundlich gucken? Sie sagt, ohne dass es jemand hört: Du bist schön. Aber heute nicht, heute nicht.
Der Fotograf scheint auch nicht zufrieden zu sein. Vielleicht bildet sie sich das aber nur ein.
Jutta gibt sich Mühe mit ihrem Gesicht, das kann sie doch, sie will ein schönes Bild haben oder sein.
Der Fotograf zeigt ihr ein paar Aufnahmen auf dem Display.
Könnten Sie etwas entspannter aussehen?, fragt der Fotograf.

Der Fotograf und Jutta tun ihr Bestes, sie wählen eine Variante von ihr aus, sie bekommt vier Fotos, sie zahlt und geht aus dem Geschäft. Der Fotograf schaut ihr zuerst mitleidig, dann gleichgültig hinterher. Das kann sie gar nicht wissen. Sie hat sich nicht umgedreht.

Die Mitarbeiterin sagt, die schönste Frau auf Erden sähe scheiße auf solchen Aufnahmen aus

Jutta geht nach Hause und schaut die vier Passbilder an. Dann nimmt sie einen Spiegel in die Hand. Sie erträgt es kaum anders auszusehen, als sie sich vorstellt, wie sie aussieht.  Anders heißt: hässlich, verschüchtert. Blass, unsichtbar. Bedeutungslos. Das ist das Schlimmste, bedeutungslos.
Jutta versucht sich einzureden, dass ein Passbild kein großes Ding ist, wann zeigt man das schon? Als sie an einem Drogerie-Markt vorbeiläuft, sieht sie ein Schild: Wir machen Ihre Bewerbungsfotos.
Jutta geht in das Geschäft.
Die junge Frau, die die Bewerbungsfotos von ihr machen wird, sagt: Ziehen Sie sich aus.
Alles?, fragt Jutta.
Die junge Frau versteht oder hört den Scherz nicht.
Jutta zieht ihren Mantel und den Schal aus. Die junge Frau gibt ihr einen kleinen Spiegel: Falls Sie noch etwas verbessern möchten.
Jutta lacht.

Während die junge Mitarbeiterin sich bemüht, Jutta biometrisch korrekt abzulichten, legt eine Mutter ihr schreiendes Baby auf eine Wickelkommode gleich neben der Wand, an der Jutta steht, um das beste Passbild der Welt machen zu lassen. Die Mitarbeiterin für die Fotos reagiert gereizt auf das schreiende Baby, die Mutter reagiert gereizt auf die gereizte Mitarbeiterin, Jutta ahnt, dass auch diese keine geeignete Situation für die Produktion schöner Jutta-Fotos sein wird.
Noch einmal Klick. Die Mutter des Babys entsorgt die Windel. Der Drucker rumpelt. Jutta fühlt sich seltsam verloren. Dann werden sechs Bilder ausgespuckt.
Jutta sagt: Ach.
Die Mitarbeiterin sagt: Wissen Sie, auch die schönste Frau auf Erden sieht scheiße auf solchen Aufnahmen aus.
Jutta zieht eine Augenbraue hoch.
Vielleicht hätten Sie mir sagen sollen, dass ich den Kopf etwas niedriger halten muss, sagt Jutta. Man schaut ja direkt in meine Nasenlöcher.
Die Mitarbeiterin sieht die Fotos an.
Ja, stimmt. Und Sie sehen ein bisschen streng aus.
Streng, mit zu großen Nasenlöchern und unglücklich, denkt Jutta.
Aber biometrisch gesehen voll ok.
Und was heißt das nun?
Besser geht`s nicht.

Jutta hat das neblig-schöne Gefühl von Sucht. Immer mehr Fotos müssen her

Nun besitzt Jutta zehn Fotos, auf denen sie sich nicht mag. Das wird sie nicht akzeptieren.
Sie geht in einen U-Bahnhof, dort steht ein Fotoautomat. Noch nie haben ihr die Bilder aus den Automaten gefallen. Aber die Bilder vom Fotografen und von der Drogerie-Fachkraft haben ihr ja auch nicht gefallen. Jutta hat gerade ein neblig-schönes Gefühl von Sucht. Immer mehr Fotos müssen her. Irgendwann wird es gelingen.

Nachdem sie Geld in den Schlitz geworfen hat, spricht der Automat mit ihr.
Möchten Sie ein biometrisches oder ein Spaß-Foto. Drücken Sie die linke oder die rechte Pfeiltaste.
Jutta drückt links.
Es erscheint eine Art Schablone auf ihrem abgebildeten Gesicht. Eine rote Linie läuft senkrecht mitten über ihre Stirn und ihre Nase, teilt den Mund und läuft als vorstellbare Blutspur mitten über ihren Hals.
Halten Sie den Kopf aufrecht und gerade. Schauen Sie direkt in die Kamera.
Drücken Sie auf „Fertig“, wenn Sie für das Foto bereit sind, sagt der Automat.
Jutta ist bereit.
Die Automatenstimme wird gefühlvoll und fröhlich:
„Achtung. Und los geht´s.“

Nun besitzt sie 14 Bilder, auf denen sie sich nicht mag

Es erscheint ein vorläufiges Jutta-Bild, das auch nicht hässlicher ist als die Fotos, die sie schon hat machen lassen.
Sind Sie zufrieden? Wenn Sie das Bild drucken lassen möchten, drücken Sie die OK -Taste. Wenn nicht, drücken Sie die linke Pfeiltaste für ein neues Foto. 
Der Automat ist freundlicher und gesprächiger als der Fotograf und die Drogerie-Angestellte. Jutta wird es warm ums Herz. Vielleicht geht es ja doch noch besser. Sie drückt die Pfeiltaste.
Die vorstellbare Blutlinie läuft wieder gerade von der Stirn über die Nase, über den Mund, über das Kinn, über ihre Kehle.  Jutta versucht ein kleines Lächeln, ohne den Mund zu öffnen. Jutta versucht, an etwas Freundliches zu denken, damit die Augen nicht leer schauen. Jutta drückt „Fertig“.
Und los geht`s.
Wenn Sie das Bild ausdrucken lassen möchten, drücken Sie die OK-Taste.
Jutta drückt nicht die OK-Taste und gibt sich eine dritte Chance.
Dann lässt sie sich vier Mal ausdrucken. Jetzt sieht sie nicht streng, sondern nur erschütternd schlecht aus.

Nun besitzt sie 14 Fotos, auf denen sie sich nicht mag.
Um 11 Uhr 10 sitzt Jutta im Bürgeramt. Um 12 Uhr 05 wird sie aufgerufen, sich in Zimmer 25 zu begeben.
Da sitzt sie nun, die Sachbearbeiterin,  fragt, ob die Angaben zu Größe und Augenfarbe aus dem Personalausweis stimmen. Jutta nickt, obwohl sie nie 1 Meter 70 groß gewesen ist und auch nie grau-grüne, sondern immer blau-graue Augen hatte. Grün und 1 Meter 70 fand sie damals und findet sie heute besser.  Und welches Foto würden Sie wählen?, fragt Jutta und legt 14 hässliche Bilder auf den Tisch.
Die Sachbearbeiterin schaut Jutta an, „die sehen ja alle nicht so aus wie Sie“, sagt sie und nimmt ein Foto und klebt es auf eine Vorlage aus Papier. Jutta möchte die Frau küssen, aber nun soll sie auf einem Lesegerät ihren Namen schreiben. Der Stift ist dünn, die Oberfläche ist glatt, ihre Hand zittert.  Die Unterschrift wird zehn Jahre lang auf ihrem neuen Ausweis zu sehen sein.
Sie schreibt ihren Namen. Die Buchstaben torkeln verschüchtert, blass und kleinlich  hintereinander her. So also sieht ihre Unterschrift aus. Bedeutungslos.

Kann ich das nochmal versuchen, fragt Jutta.

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