Sylvia Heinleins Wochenjournal über die Stürme im Wasserglas des Alltags.
Diesmal: Große Sachen
Meine Luder, was für eine Woche! Ich habe zwei große Sachen gedacht. Erstens: der Sinn des Lebens. Könnte es eventuell zumindest ein Zweck des Lebens sein, auf einer Decke in der Spätsommersonne zu liegen, die Pappeln rauschen leise und das Handy liegt im Haus, man kommt nicht ran. Deshalb liest man eine gute Zeitung, ein kleiner Wind bewegt die Seiten und das Leben ist famos und einfach und wunderschön. Vielleicht wird man sehr lieb, wenn man es des Öfteren so hält und fühlt.
Ich will nicht über früher sprechen, keine von uns will das, meine Luder, nicht wahr? Aber vielleicht doch, denn zweitens habe ich gedacht: Wenn sich damals jemand rundherum klasse und korrekt verhalten hat, hieß es, „das ist ein feiner Kerl“, auch über Frauen sagte man das. Heute gibt es Wokeness, die toppt „feiner Kerl“ irgendwie. All jene, die schon längst woke sind: Ihr habt jetzt Schluss und dürft in die Pausenhalle. Alle anderen: Wokeness meint, ein wachsames Bewusstsein für Diskriminierungen und Missstände zu haben. Das hat ein feines Luder zwar auch, aber nicht so weitreichend, wenn ich die woke-Geschichte richtig verfolgt habe.
Eine Regel des Woke-seins ist, dass niemand mehr in seinen Gefühlen verletzt wird, nur weil er/sie anders ist oder aussieht. Da habe ich noch aufzuholen. Wenn ich zum Beispiel einen Mann sehe, der sich vorbeugt, um irgendetwas zu erledigen und dabei rutscht ihm die Hose über den halben Hintern, dann möchte ich hingehen und sagen: „Dude, kleiner Hinweis: Die Welt sieht Deine Po-Ritze.“ Im Supermarkt habe ich auch schon mal gedacht, dass ich eine Stange Kaubonbons in die Ritze stecken könnte, so als lustiger Streich. In meiner Jugend war man noch grausam und hat einander Juckpulver in den Pullover getan oder Ranzen versteckt.
Das war gemein, aber wir fanden es spaßig. Hat diese Kombination aus bösartig und lustig mich zu sehr geprägt? Habe ich überhaupt noch eine echte Chance woke zu werden? Oder bin ich ein Cowboy ohne Pferd, es wurde ihm in der Steppe gestohlen. Nun schleppt er sich im Nirgendwo an den Bahngleisen entlang und endlich hört er hinter sich Räder auf den Schienen rattern (dadamm-dadamm!) und die Dampflokomotive pfeifen: „Woo-uuuuke!“ „Woo-uuuuke!“ und schon donnert ein Zug heran. Der Cowboy winkt und brüllt, aber natürlich stoppt kein Lokführer auf offener Strecke für eine verlorene Seele, denn wer weiß, ob dann nicht hinter dem nächsten Hügel Banditen hervorstürmen würden. Der Heizer legt also noch eine Schippe Kohle auf und der Cowboy bäumt sich auf, mit letzter Kraft rennt er neben dem Zug her und versucht aufzuspringen – aber er kriegt es nicht hin, er ist zu erschöpft von dem langen Gelatsche durch die Prärie, vielleicht auch vom Alter, denn es ist kein ganz junger Cowboy mehr. Jetzt steht er da und macht ein dummes Gesicht. „Hahaha“, denkt er, „der Zug ist jedenfalls abgefahren.“ Ja, ich denke genauso sieht es aus und jetzt will ich mal sehen, wo ich ein frisches Pferd herbekomme. Denn, meine Luder, mein Weg zu neuen Taten ist noch viele Meilen lang, ich reite weiter, immer weiter, in den Sonnenuntergang.