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Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

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Leben in der Berührungs-Öde

Ein Jahr Corona. Ein Jahr reduzierte Begegnungen und vor allem: ein Jahr kein körperlicher Kontakt mit anderen Menschen. Katharina von Wegen über eine ungesunde Situation

Mehr los als bei uns
Foto: Tracy Adams/unsplash

Die küssen. Verdammt. Die umarmen sich. Dürfen die das? Nach einem Jahr mit Corona zucke ich automatisch zusammen, wenn Menschen öffentlich tun, wonach ihnen der Sinn steht. Sich knuddeln, anfassen, drücken. Mein Gehirn ist schlau: Ist ja vernünftig, das alles nicht zu tun. Meine Sehnsucht ist  noch schlauer: Ich will das alles haben.

Bevor dieses aufdringliche Virus mit seinen mutierenden Verwandten unseren Alltag mehr oder weniger geschrottet hat, wusste ich nicht, dass mir Berührungen fehlen könnten. Ich wohne allein, meistens gerne. Genauso gern bin ich mit anderen zusammen. Dann schüttele ich Hände, streichele über Rücken und Haare, umarme und küsse – mit Einverständnis – wen ich mag. Vorbei.
Jetzt bin ich die kleinste Einheit der Pandemie: 1 Haushalt. 1 Person darf ich reinlassen.

Meine Finger entwickeln die seltsame Sucht, alles anfassen zu wollen

Zuerst ist es mir nicht aufgefallen. Manchmal, wenn ich die Spülmaschine ausräume, halte ich die noch warmen Teller in der Hand. So fühlt sich also Porzellan an. Der Topfkratzer ruppig. Die Bestecke kühl und glatt. Meine Finger entwickeln eine seltsame Sucht. Alles will angefasst werden: Papier fühlt sich trocken an. Tische aus Glas sind kühl. Holz beruhigend. Und wie fühle ich mich an?  
Warum  macht den meisten Menschen das erzwungene Abstandhalten eigentlich so viel aus?
Weil ohne Berührung gar nichts läuft auf dieser Erde. Die Schwerkraft macht, dass die Fußsohlen auf dem Boden bleiben und der Hintern auf dem Stuhl. Das ist praktisch, aber nicht romantisch. Wenn wir an Berührungen denken, denken wir an Nähe. An Trost und Vertrauen. An Sicherheit.
Immer schon. Ich schwimme in der Gebärmutter und lutsche am Daumen. Jahrzehnte später drehe ich an meinen Haaren oder knete meine Finger, wenn ich unsicher bin. Woher weiß ein Organismus, dass es gut tut, sich selbst zu berühren?

Billionen Nervenenden sind in Kurzarbeit

Der Tastsinn entwickelt sich zuerst. Es werden blinde oder taube Menschen geboren, aber ohne die Fähigkeit, Berührungen wahrzunehmen, ist noch niemand auf die Welt gekommen. Von Anfang an registrieren 900 Milliarden Rezeptoren alle Reize, die die zwei Billionen Nervenenden unter der Haut spüren.
Die Nerven hatten gut zu tun. Als Kind glitschige Regenwürmer registrieren, Schmerz beim Hinfallen merken, Glückshormone beim gelungenen Klettern weiterleiten. Und alles war zum Greifen nah: Mama und Papa. Die Freundinnen, der erste Freund. Später dann: Ich habe dich berührt und du mich. Und wir beide dann das Kind. Die winzigen Finger. Die weiche Haut. Und Spucke und Tränen.
Und jetzt? Die Billionen Nervenenden unter der Haut sind auf Kurzarbeit.

Bäume umarmen, Buchseiten tasten, den Finger in Butter stecken – alles schön. Aber kein Ersatz
Foto: Concious Design/unsplash

Ich helfe ihnen und fasse an: Bleistifte, Kartoffeln, Bücher, Pilze, Handtücher, Pullover, Kakteen. Das reicht nicht. Also mehr. Ich fasse  an: meine Haare nach dem Waschen. Das Knie, das Ohr, die … Reicht bei weitem nicht. Die superschlauen Nervenenden wollen auch mal wieder von anderen Menschen elektrisiert werden. Wir sind soziale Wesen. Ein Baby, das  ernährt, aber nicht gestreichelt wird, stirbt. Ein Mensch kann sich selbst umarmen, liebkosen und befriedigen. Aber erst der Hautkontakt mit einem anderen lässt die Sinne jubilieren: Da ist noch einer, ich bin nicht allein!
Kein anderer Sinn beweist so unwiderlegbar, dass die Welt wirklich existiert. Bilder, Geräusche oder Gerüche können eine Sinnestäuschung sein. Was man anfassen, wogegen man stoßen kann, das ist zweifelsohne da.
Zweifelsohne da. Gegen meinen Willen. Übergriffig. Der Fremde im Bus, der mir auf die Pelle rückt. Die nassen Küsschen der doofen Tante früher. Der Sex, den ich mitmache, obwohl ich nicht wirklich Lust habe.

Für wie viele Menschen ist Corona gerade eine wunderbare Ausrede und Auszeit: Nicht mehr so tun müssen, als wäre Nähe schön, wenn man sie selbst als bedrohlich empfindet. Nicht mehr als die Verklemmte gelten, die nicht küssen will. Nichts mehr diskutieren müssen. Jetzt ist es einfach bloß tödlich. Fertig.

Nichteinmal der Masseur darf aktuell ran

In Zeiten, in denen das Wünschen noch geholfen hat, also nicht heute,da habe ich einmal einen Mann dafür bezahlt, dass er mich berührt. Ich hatte ihn gegoogelt, sein Preis schien mir angemessen. Als ich mich auszog, drehte er sich diskret zur Seite. Wenn ich mich verkrampfte, und er merkte es früher als ich, lockerte er den Druck. Manchmal tat es weh, manchmal unglaublich gut. Ich spürte seine Wärme, ich hörte ihn atmen, aber nie gab es eine Berührung, die nicht professionell war. Er war ein einwandfreier Masseur.
Auch der Masseur darf im Moment nicht ran. Aber wo bleibt das berechtigte Verlangen des Körpers, ein Leben lang freundlich und zärtlich behandelt zu werden? Die Haut hat keine Ahnung vom stacheligen Virus, sie will Kontakt und Lust. Jetzt. Morgen. Übermorgen. Hm, nun ja.
Ich schaue mich im Spiegel an, das macht mich nicht nur froh. Je älter ich werde, desto mehr verhülle ich: zuerst die Oberschenkel, dann die Oberarme, dann den Hals. Und schließlich die Sehnsucht.
Stell dir vor, du lernst jemanden kennen und dann …

Ach! Wenn die Verlegenheit oder Scham oder Angst größer werden als der Wunsch nach körperlicher Nähe, kann ich mir einreden: Intimität und das ganze Fummeln brauch‘ ich nicht mehr. Kann ja stimmen. – Und wenn nicht?  
Näher kommen. Sich herantasten. Anfassen. Begreifen.
Unsere Sprache hat viele Wörter zum Beschreiben von Berührungen. Dabei ist es ihr egal, ob es um physisches oder psychisches Angefasst-sein geht.

Ich will nicht mehr. Ich will viel mehr

Sich gut fühlen. Empfindlich sein. Ergriffen sein. Etwas tangiert die einen. Den anderen geht alles am Arsch vorbei. Gänsehaut kriegen. Wer kann sich einfühlen?
Ein Jahr ohne das gute Leben. Ich will nicht mehr. Also, ich will viel mehr. Ich rufe M. an: „Wollen wir Party machen? Ich bringe Wein mit und du holst das Essen vom Asiaten-to-go.“
Und so stehe ich als die 1 Person vor ihrer Tür, die sie als 1 Haushalt hereinlassen darf.

M. hat eine Corona-taugliche Wohnung. Hohe Decken für weite Ausflüge der Aerosole, große Fenster zum Vertreiben der Viecher. Bloß einen sehr, sehr engen Flur. Da müssen wir durch. Ich klingele, mit Maske auf dem Gesicht. Sie öffnet, auch mit Maske. Dann tanzen wir das Corona-Ballett: sie zwei Schritte zurück, ich einen vor. Sie nach rechts, ich nach links. Und dann kommt Emily.
Emily ist ihre Perserkatze, extrem schön und extrem verliebt in mich.
Mit ihr darf ich endlich streicheln und grapschen und berühren und berührt sein. Ich kann es kaum fassen, wie schön das ist.
M. hat inzwischen uralte Musik aufgelegt. Mit Emily im Arm höre ich:
„See me. Feel me. Touch me. Heal me.“
Von The Who. Woodstock 1969.

Katharina von Wegen

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