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Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

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Endlich Weitsicht I Die Scham ist vorbei

Was bis eben noch passend war, greift nicht mehr. Der Körper fordert einen neuen Umgang und die Gesellschaft verändert ihren uns gegenüber. Wir müssen uns neu orientieren. Und kommen zu großen Erkenntnissen. In ihrem Text schreibt Silke Burmester über die Freiheit, nackt zu sein, und sich nicht zu scheren, was andere denken

Wäre Nacktsein einfacher gewesen mit einem Körper, an dem nie etwas wogt und schlackert, fragt sich die Autorin. © Palais Fluxx (KI bearbeitet)

Die Scham ist vorbei

Sexualität und Nacktsein, sagte meine Mutter, seien etwas völlig Normales. Da bräuchte man sich nicht zu schämen. Was man so sagte, in den 70ern. Ein einziges Mal habe ich mitbekommen, dass meine Eltern geschlechtlich verkehrten, nackt gesehen habe ich sie nie. Meine Mutter allenfalls mal ohne BH. Ich hatte also ein gutes Vorbild in Sachen „Normalität“ und unverklemmtem Verhalten.

Anders ging es bei meiner Freundin zu. Ihre Eltern waren einen ganzen Zacken jünger als meine und der progressive Geist der 68er zog ihnen regelmäßig bei sommerlicher Hitze die Textilien vom Leib. Sie lagen nackt in ihrem Garten. Zumindest, bis ich eintraf. Kam ich angeschlendert, bedeckte der Vater sein Geschlecht mit irgendwas, ging ins Haus und kam in der Unterhose wieder raus. Von meiner Freundin hörte ich auch, dass es etwas gab, das sich „FKK“ nannte und bei dem ALLE Leute nackt seien und das gut fänden. Für ein Kind, dessen Horizont die Eltern stets mit den Worten „Andere Leute machen das“ – Französisch sprechen zum Beispiel oder Klavier lernen – „wir aber nicht“ eingrenzten, öffnete diese Information eine große Rätselkiste bezüglich des Treibens an deutschen Stränden. Denn mit Sex, so sagte man uns, hätte das nichts zu tun. Männer und Frauen, so meine Verwirrung, waren unbekleidet – und das, ohne den Penis in eine Scheide stecken zu wollen?! Eine Handlung, mit dem im Rahmen meiner Aufklärung das Nacktsein Erwachsener seine Begründung erhalten hatte.

Vielleicht hätte sich meine Verklemmtheit weniger stark entwickelt, wenn ich eine Frau mit knabenhaftem Körper geworden wäre, an der nie etwas schlackert, wenn sie sich bewegt. An der kein Busen wiegt und wogt und die sich ohne Bekleidung frei fühlt. War aber nicht so. Im Gegenteil. Öffentliches Nacktsein war eine Horrorvorstellung schlechthin. Das nächtliche Spontanbaden im Freibad, sich mit anderen für die elterliche Sauna zu verabreden, wenn übers Wochenende sturmfrei war – allein die „Oben-ohne-Zeit“ der 70er- und 80er-Jahre, die ich ideologisch gesehen völlig richtig fand und finde, übte unguten Druck auf mich aus. Ich wollte und mochte mich nicht nackt zeigen. Auch, wenn ich mir die innere Freiheit, es zu tun, wünschte.

Aber da war ja nicht nur der Busen, da war auch noch der Hintern. Auch nicht schön. Zu flach. Zu breit, zu irgendwas. Hosenkauf wurde zur schlimmsten aller Aufgaben. Irgendwann, in meinen Dreißigern, dann der rettende Gedanke: Ich sehe mich ja nicht von hinten. Ist also total egal, wenn mein Po doof aussieht.  

Die Wende kam an der Ost-Ostsee. Hier, wo die Leute auch 30 Jahre nach der Auflösung ihres Staates noch in aller Selbstverständlichkeit ohne Bekleidung in die See steigen, begann die Befreiung. Vielleicht liegt es daran, dass ich den Pragmatismus so mag, der viele Ostdeutsche bis heute prägt. Die Bodenständigkeit, gerade der Frauen. Das Selbstverständnis im Tun und Handeln, das sich weniger in Fragen wie „Wie sehe ich aus?“ verliert als in einer zupackenden, lösungsorientierten Art.

Mir gefiel die Vorstellung, dass ganze Teile einer Bevölkerung nackt ins Wasser gehen, allein weil sie es können. Weil es eine der wenigen verwegenen Freiheiten in einem restriktiven Land war, die gestattet war. Und auf die man beharrte. Eine Egalität, die ehrlich war. Vielleicht war man auch nur froh, die hässlichen Klamotten endlich ablegen zu können, die am Ende doch immer nur zweite Wahl waren, hart, kratzig und ohne Westglanz. Egal, die Nacktheit der DDR-Bürger*innen, ihr Beharren auch nach der Wende, unbekleidet am Strand zu sein, selbst jetzt in diesem neuen Land, wo es häufig nicht mehr gestattet war, entspannte mich. Es beruhigte mich. Es befreite mich.

Ich fühlte mich weniger angeguckt. Weniger beguckt. Weniger gesehen.

Auch Sylt ist so ein Ort, der das Nacktsein zelebriert. An dem es Teil der Kultur ist. In den 70ern tummelte sich die geistige Elite an den FFK-Stränden, es gibt ein Porträt über den bedeutenden Feuilletonisten Fritz J. Raddatz, das damit beginnt, dass der Reporter Raddatz am Strand treffen will und aus der Ferne kommt ein nackter, bedeutender Feuilletonist auf ihn zu. Wer auf Sylt nackt sein will, hat kein Problem, die FKK-Strände sind lang und über die Insel verteilt, es ist die Befangenheit der bekleideten Spaziergänger*innen, die ab und zu über den Strand weht.

Ich bin noch immer nicht gern nackt. Ich zeige mich nicht gern. Aber ich bin gern frei. Ich mag es, den Wind am Körper zu spüren und das Gefühl, wenn das Wasser direkt auf die Haut trifft. Wenn die Sonne die Wassertropfen am Körper trocknet. Ich mag die Idee der Natürlichkeit. Die Idee, einfach zu sein, wie man ist.

Und es ist jetzt, jetzt in diesen fortgeschrittenen Jahren, jetzt mit diesem fortgeschrittenen Körper, der immer weniger dem entspricht, was ich einer Öffentlichkeit präsentieren möchte, dass ich denke: Scheiß doch drauf! Ist doch kackegal, wie ich aussehe! Ich mach das jetzt! Ich zieh mich jetzt aus! Ich geh jetzt nackt ins Wasser, manchmal selbst wenn es kein FKK-Bereich ist. Ich mach das jetzt, weil nichts dabei ist. Weil es ein Körper ist, wie ihn alle Frauen haben. Mit Armen, Beinen und Busen. Mit Po und – das haben nicht alle – Schambehaarung. Es ist nichts, für das man sich zu schämen bräuchte und jetzt, wo er raus ist aus dem Spiel von sexuellem Begehren als Resultat bloßer weiblicher Existenz, kann ich ihn auch endlich zeigen. Mich will keiner mehr bumsen. Bumsen wollen sie die 20-Jährigen mit den Knackärschen, durch deren Backen ein Band läuft. Frauen, an denen alles herrlich straff und prall ist und wohlgeformt.

Was für eine Freiheit, einen solchen Körper nicht mehr zu haben! Welch eine Erleichterung und Befreiung. Und, welch Wohltat.

Wie schön wäre es gewesen, schon früher so empfunden zu haben. Einfach sein zu können, anstatt durch die bloße Existenz ein Angebot zu machen. Beziehungsweise den anderen ein Angebot zu sein.

Ich bin kein Angebot mehr. Ich bin das Gegenteil von einem Angebot. Ich bin eine mitunter wütende und entschiedene Frau. Ich bin das Gegenteil von geschmeidig. Das strahlt mein Körper aus. Er ist eine Festung. Wer sie erobern will, muss gut gerüstet sein. Das ist den meisten zu anstrengend. Und so freu ich mich, meine Ruhe zu haben und es zu genießen, wenn im Wasser die Wellen gegen die Brüste schwappen, wenn der ganze Körper vom Wasser umspielt wird. Wenn die Sonne anschließend die Tropfen auf ihm trocknet und es leicht kitzelt, wenn die Schamhaare sich dabei aufstellen.

Es ist eine große Freiheit, dass es mir so egal ist, was andere meinen. Dass ich mich nicht mehr schäme, sondern denke, ja, so ist es. Das ist mein Körper. Take it or leave it. Die Vorstellung, dass ich eine solche Haltung schon vor 30 Jahren hätte haben können, funktioniert nicht. Du kannst als Frau nicht einfach sein. Du bist Objekt. Objekt, Begierde, Verfügungsmasse.
Über meine 58-jährige Masse möchte keiner mehr verfügen. Außer mir. Es ist die Freiheit des fortgeschrittenen Alters. Was ein Gewinn, dass Männer so einfältig sind! Den Ärger darüber, dass sie mir mit ihren Blicken, mit ihrem übergriffigen Begehren die Jugend versaut haben, schiebe ich weg. Jetzt ist keine Zeit sich zu ärgern. Es ist die Zeit zu genießen!


Und nun, Weitsicht für die Ohren!

Songs der Erkenntnis, Einsicht und Erleuchtung. Zusammengestellt von Michaela Gerganoff

#archiv Erstveröffentlichung im Oktober 2020

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