Welche Bücher haben uns 2024 umgehauen? Wir stellen euch unsere persönlichen Literaturhighlights vor.
„Während die Welt schlief“ von Susan Abulhawa
Ich habe das Buch schon vor längerer Zeit gelesen. Aber es ist aktueller denn je. Es geht darin um die Vertreibung einer palästinensischen Familie durch jüdische Siedler zu Beginn der Gründung des Staates Israel 1948. Die fiktionale Familiengeschichte wird aus Sicht der Tochter erzählt. Bei der Vertreibung wird die Familie getrennt und die beiden Brüder wachsen unterschiedlich auf: der eine als Adoptivsohn jüdischer Eltern, der andere als Flüchtlingskind in Palästina. Die Autorin beschreibt eindringlich, dass es beim Konflikt zwischen Israel und Palästina immer zwei Seiten gibt. Außerdem ist die Geschichte soooo traurig, dass man einfach ungehemmt den Tränen freien Lauf lassen kann. Und das tut manchmal auch ganz gut. „Während die Welt schlief“ hat mich sehr bewegt.
„Über Frauen“ von Susan Sontag
Natürlich: „Auf allen Vieren“ von Miranda July, aber das werden noch viele nennen, denke ich (siehe Silke). Deshalb fällt meine Wahl auf „Über Frauen“ von Susan Sontag. Das ist eine neu herausgekommene Essay-Sammlung mit Texten aus den 70er-Jahren, die alle das Thema Frau auf irgendeine Art zum Inhalt haben. Es geht dabei aber auch um Marxismus und Faschismus. Mich hat umgehauen, wie klarsichtig Susan Sontag beschrieben hat, was im Faschismus in Bezug auf die Rolle der Frau passiert ist, wie sich die Muster und die Mechanismen wiederholen. Sie bezieht sich zwar auf das Wieder-Erstarken der Rechten in den 70er-Jahren, und manches in ihren Analysen mag uns heute selbstverständlich erscheinen, aber das war es damals nicht. Und das ist es offensichtlich heute auch noch nicht. Oder wieder nicht.
„Die Wolfsfrau“ von Clarissa Pinkola Estés
Mein Buch der Wahl ist von 1992. Seit 2007 stand es ungelesen in meinem Regal. Ich hatte es damals von meinem Therapeuten geschenkt bekommen, der mich durch eine Liebeskrise begleitete. Ich weiß nicht warum, aber im August griff ich zu dem Buch, in dem die mexikanische Psychoanalytikerin Clarissa Pinkola Estés auf nahezu 500 Seiten Frauen dazu ermutigt, die Kraft des Weiblichen (wieder)zuentdecken. Dabei bezieht sich die Jungianerin auf Märchen und die Bedeutung archetypischer Symbole. Mich hat das Buch umgehauen, weil es ohne Wenn und Aber die weibliche Kraft feiert, und das mit einer Überzeugung, als wär’s das Selbstverständlichste der Welt. Und mit einer Tiefe und einer Solidarität, die ich in all den akademischen feministischen Schwurbeleien vermisse. Mittlerweile stehen sechs Exemplare in meinem Regal, die ich hier in Düsseldorf in öffentlichen Bücherschränken gefunden habe. Sie sind Geschenke für Freundinnen, die die Erinnerung an die eigene weibliche Urkraft brauchen.
„Die Gedächtnislosen“ von Géraldine Schwarz
Das Buch schenkte mir eine Freundin mit der Bitte: „Darüber möchte ich mit Dir sprechen, wenn Du es gelesen hast.“ Als dann ihr nächster Besuch bei mir anstand, wollte ich das Buch zumindest angelesen haben, um darüber sprechen zu können. Anfangs haderte ich mit der Form: War es ein Roman? Ein historisches Sachbuch? Eine Biografie? Auf alle Fälle schien es keine leichte Lektüre zu sein. Das erste Kapitel hieß „Nazi oder Nicht-Nazi sein“. Hatte ich zum Thema Nationalsozialismus nicht schon genug gelesen und gesehen? Nein. Hatte ich nicht. Die Schriftstellerin Géraldine Schwarz kombiniert Briefe und Erzählungen ihrer Familie mit historischen Ereignissen. Besonders faszinierten mich die Kapitel, in denen die Zeit des Nationalsozialismus aufgearbeitet wurde. Oder auch nicht. Dabei ist der Blick der Autorin als Kind deutsch-französischer Eltern spannend. Am Ende blieb ich fassungslos zurück. Über die kleinen und großen Untaten dieser Zeit, aber noch viel mehr über das Schweigen. Und darüber, dass ich viele persönliche Fragen der Autorin nicht beantworten kann. Zum Beispiel wie ich in der Zeit reagiert hätte. Ich weiß es nicht. Um so wichtiger finde ich es, dieses Buch gerade jetzt zu lesen. Um zu wissen, wie man jetzt handeln möchte. Ich bin dankbar, dass mir dieses Buch geschenkt wurde.
„Weißen Feminismus canceln“ von Sibel Schick
Mich haben dieses Jahr gleich zwei Bücher umgehauen: „Weißen Feminismus canceln“ von Sibel Schick und „Klassismus überwinden“ von Francis Seeck. Ich habe sie nur gelesen, weil ich beruflich mit den Autor:innen zu tun hatte. Zum Glück! Warum die mich umgehauen haben? Ich wäre um so viel ärmer ohne die klugen Worte der beiden. Die Werke sind erhellend, brachten mir neue Gedanken und jede Menge Fragen an mich selbst. Danke!
Simones Buchbesprechung lest Ihr hier.
„Auf allen Vieren“ von Miranda July
Mich hat „Auf allen Vieren“ von Miranda July umgehauen, schlicht, weil Miranda July sich traut, einfach ALLES auf den Tisch zu packen. Jede Begierde, jede Sehnsucht, jede Peinlichkeit. Was in Millionen Frauenköpfen hinter dem Vorhang verborgen bleibt, legt sie dar und bloß. Und das ohne Schwere, sondern mit der stillen Ermunterung zu mehr Tun, Machen, Sich-Trauen. Das zweite Buch ist „Trueboy“ von Anuschka Roshani. Die Autorin hat ihre Liebe, Bewunderung und Begeisterung für Truman Capote genutzt, um sich auf die Suche nach den verschwundenen Kapiteln des Buches zu machen, das sein ultimatives Meisterwerk werden sollte. Roschanis Buch ist eigenartig und nicht unbedingt zu empfehlen – es sei denn, man ist Capote-Fan –, aber es hat mich dazu gebracht, mich nach zwei Jahrzehnten erneut der Faszination „Capote“ auszuliefern, hinzugeben und nicht nur zum x-ten Mal „Breakfast at Tiffanys“ zu lesen, sondern auch das Gespräch, das er mit Lawrence Grobel 1984 in Buchform veröffentlicht hat und das wohl seit damals in meinem Regal steht. Und das umwerfend ist!
„O Brother“ von John Niven
Mich hat dieses Jahr ein Buch umgehauen, das von einem Mann geschrieben und von einem nächsten übersetzt ist: „O Brother“ vom britischen Pop-Autor John Niven. Es geht darin um den Selbstmord seines Bruders. Das Buch erörtert die Frage, wie zwei Brüder, die ursprünglich dieselbe Basis haben beziehungsweise dieselbe Sozialisation, so derartig unterschiedlich mit dem Leben zurechtkommen können. John Niven selbst schlägt – nach einigen Kurven – den Weg des Bestseller-Autors ein, sein jüngerer Bruder wendet sich den Drogen zu, endet hochverschuldet, lebens- und handlungsunfähig, nimmt sich schließlich das Leben, todunglücklich. Warum endet popkulturelle Rebellion oft so tragisch?! Mich interessiert daran zum Beispiel, wie wichtig intrinsische Motivation für ein gelingendes Leben ist, auch der Hunger nach Bildung. Generell finde ich die Dynamik zwischen Geschwistern sehr interessant, ob ihre Rollenzuschreibungen in Stein gemeißelt bleiben. „Oh Brother“ hat mich sehr, sehr beschäftigt.
„Der lange Weg zu mir selbst“ von Georgine Kellermann
Autobiografien gehören zu meinen Lieblingsgenres in der Literatur. So war ich besonders gespannt auf Georgine Kellermanns Lebenserinnerungen mit dem Untertitel „Meine Befreiung als trans* Frau nach über 60 Jahren“. Und tatsächlich konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Leicht und gleichzeitig fesselnd beschreibt sie, wie sie, die „Frau war“, bevor sie „überhaupt denken konnte“, in der Bundesrepublik der 60er und 70er Jahre aufwuchs und mehr als sechzig Jahre lang in der Öffentlichkeit „in der falschen Verpackung“ lebte: in der des Georg Kellermann. Sie bezeichnet es als ihre „größte Rolle“. Als Georg machte sie Karriere beim WDR, was ihr, da ist sie sich immer noch sicher, verwehrt worden wäre, hätte sie sich früh als Frau offenbart. Sie nimmt die Leser*innen mit durch die privaten und beruflichen Stationen ihres Lebens. Verschiedentlich spürt sie bestimmten Situationen noch einmal bewusst nach – für mich jedes Mal eine Einladung, mit hineinzugehen, nachzuempfinden und so etwas mehr zu verstehen, vom Menschen, von der Frau Georgine Kellermann, und von einem Leben in einem falschen Körper innerhalb der herrschenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse.
Sie beschreibt schwere Zeiten, Wut und Trauer, und sie erzählt von Liebe, Freundschaft und Unterstützung, die sie im Privaten immer auch hatte. „Georg lebte ein tolles Leben“, schreibt sie rückblickend, und seit ihrer Offenbarung – die auch für sie zu einem überraschenden Zeitpunkt stattfand – lebe und liebe sie das Leben noch intensiver. Das Buch ist ein Stück Zeitgeschichte, es ist kämpferisch und versöhnlich, verärgert und verstehend, lehrreich und suchend, es zeugt von tief empfundenem Humanismus und von Dankbarkeit. Und ich bin dankbar für dieses Buch.
Katrin kann sich nicht entscheiden
Ich habe viele Bücher in diesem Jahr gelesen, ungefähr 50. Davon viele Sachbücher, einige habe ich ja auch für Palais F*luxx rezensiert. Nach jedem Sachbuch aber brauchte ich was Leichtes. Zum Beispiel einen Krimi: Ich mag die Geschichten von Donna Leon, Guido Brunetti und seine Familie sind mir vertraut geworden. Und wenn ich mal ganz heftig aus der Realität fliehen will, dann sind es – ich gestehe es ungern – Liebesgeschichten, die auf einer Nordseeinsel spielen. Zack, an einem Abend durchgelesen, meine Sehnsucht nach Meer und Wind aufgefrischt. Auf meinem Schreibtisch liegen derzeit „Ein anderes Leben“ von Caroline Peters, „Man kann auch in die Höhe fallen“ von Joachim Meyerhoff und „Menschenwerk“ der koreanischen Nobelpreisträgerin Han Kang. Vielleicht kommt mein einzig wahres Lieblingsbuch 2024 ja noch.
„Trauriger Tiger“ von Neige Sinno
Ich lese soviel, dass es mir schwer fällt, mich auf ein Buch zu beschränken .„Trauriger Tiger“ von Neige Sinno hat mich nicht losgelassen. Wie schreiben über das Unerzählbare? Die französische Autorin und Literaturwissenschaftlerin Neige Sinno wurde, als sie zwischen 7 und 14 Jahre alt war, von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht und vergewaltigt. Mit 21 Jahren zeigt sie ihn an, er gesteht und wird zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Davon musste er nur fünf absitzen: „Vorzeigegefangener, Straferlass”. Er heiratet erneut, bekommt weitere Kinder. Neige Sinno hinterfragt sich selbst in ihrem Buch immer wieder, kreist um den Gedanken, dass es für Missbrauchsopfer nie ein Happy End gibt, fragt sich, ob das eigene Schreiben vom Trauma befreien kann. Ihre Sprache ist klar, präzise und eindringlich, während sie über menschliche Abgründe schreibt. Ein weiteres Buch, das ich fantastisch finde ist „Empathie und Widerstand“ von Kristina Lunz. Empathie und Widerstand sind keine Antagonisten – sondern die Schlüssel für sozialen, kulturellen, politischen Fortschritt. Lunz – Mitbegründerin & CEO des Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP) und Autorin des Bestsellers „Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch“ – macht deutlich, dass es wichtig ist zu konstruieren, statt zu dekonstruieren.