Ziege oder Kuh?
Neulich war ich in Marburg. Die Mama besuchen. Im Moment des Wiedersehens muss ich immer die Luft anhalten. Denn in diesem Moment wird ein gnadenloses Urteil über mich, meine Klamotten und meinen Körper gefällt. „Hast du schon wieder ein neues Kleid an? Hast du zugenommen?“ Es sind selten Komplimente, die ich zu hören bekomme. Schon bevor ich ihr Zimmer betrete, rolle ich innerlich mit den Augen und versuche dann so souverän wie möglich zu reagieren. „Nein, Mama, das Kleid ist zwei Jahre alt und du kennst es nur nicht. Und mein Gewicht geht dich nichts an.“
Meine Mutter jucken meine Bemerkungen freilich wenig. „Also neulich war die Tochter von meiner Nachbarin da. Die ist dein Alter und so schlank, kein Gramm Fett. Sie macht jeden Tag eine Stunde Sport und den Kuchen hier hat sie stehenlassen.“ Ich beiße gerade herzhaft in ein Stück Marmorkuchen, als ihre Tirade aufs Schlanksein auf mich niedergeht. Nun muss man wissen, dass ich meine Mutter nur als rundere Frau kenne. Und ich in meiner Familie lange die schlankste Person war, bevor mir viele Diät-Runden, Stress im Job und Wechseljahre mehr Gewicht bescherten als mir lieb ist. Mit der Selbstliebe des neuen Körpers klappt es nur so lala, im Hungern bin ich schlecht, dann schaffe ich mein Arbeitspensum nicht, außerdem bin ich eine Genießerin. Helas. Alles Dinge, mit denen ich einigermaßen meinen Frieden schließen könnte, wäre da nicht die nagende Stimme meiner Mutter, die immer wieder die Wunde aufreißt.
Meine Mama selbst gleicht mit 94 inzwischen fast einem zarten Vögelchen. Im Pflegeheim hat man sie auf Diät gesetzt. Selbst im hohen Alter hat man keine Ruhe vor Körperbesessenheit. Abends gehen wir essen. Gefühlt schaut meine Mutter bei jedem Biss vom tollen Tapas-Teller mit strengem Blick zu mir herüber. Ich verkneife mir das zweite Glas Wein und halte mich an Gemüse und Fisch. Und ich frage mich, ob die Fremd- und Eigenabwertung des eigenen Körpers wohl nie im Leben aufhört.
Am nächsten Morgen komme ich ins Heim und meine Mutter sitzt gut gelaunt auf dem Bett. „Unser Pfleger Martin hat gefragt, wie alt du bist. Du gefällst ihm. Ich habe ihn dein Alter raten lassen und er hat dich auf 45 geschätzt.“ Ich überlege kurz, ob ich das als Kompliment annehmen kann, denn ich bin weit über das Alter hinaus und Martin vielleicht Ende 30. „Siehst du, so hat es doch was Gutes, dass du nicht so dünn bist. Im Alter musst du dich entscheiden, ob du ein faltiges Ziegengesicht oder die glatte Haut einer Kuh haben willst. Und du bist eben eine Kuh.“ Zufrieden lehnt sie sich zurück und greift zu ihrer Zeitung. Ich möchte in diesem Moment nichts mehr als ein Stück Marmorkuchen …
Ingeborg Trampe
Die Fachfrau für PR ist durch ihre Arbeit rund um Hamburgs Kunst, Kultur und Genüsslichkeiten immer eine gute Adresse auf die Frage, where to go. Alle 14 Tage beschreibt sie für uns „what to avoid“, was es zu meiden gilt. Ihre Mutter.