Close

Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

Close

Es befinden sich keine Produkte im Warenkorb.

Lesen oder Lassen?

Buchbesprechung „Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben“ – Gesammelte Gedichte von Mary Oliver

Worum geht’s?
Nun, eine einzelne Geschichte gibt es nicht. Es ist ein Gedichtband und man kann sagen, dass Mary Oliver auf jeder der 448 Seiten eine Geschichte erzählt.

Was kann es?
Auch wenn diese Frage fester Bestandteil des Fragebogens ist, so finde ich ihn in diesem Zusammenhang etwas unpassend. Gedichte und sogar einzelne Worte können Gefühle und die Wahrnehmung auf die Welt in wenigen Momente verändern. Sie sind wie ein Durchgang von einem in das andere Zimmer. Vom Dunkel ins Helle, von der Verzweiflung zur Hoffnung, von der Härte ins Weiche, vom Vergangenem ins Heute.

Bei den Gedichten von Mary Oliver fällt der Konjunktiv weg: Sie können nicht nur, sie tun es. Sie verändern. Und das mit einer Sprache, die zugänglich, zart, lakonisch und lächelnd ist. Manchmal erinnert mich ihre Art zu denken und zu schreiben an die amerikanische Schriftstellerin Joan Didion. Ich stelle mir vor, dass die beiden sich kannten, dass jede die Zeilen der anderen las. Recherchiert habe ich das nicht. Ich belasse es bei der Vorstellung, weil mir die Schwebe gefällt, die auch in Olivers Gedichten schwingt.

Was hat es mit mir zu tun?
Ich bin aufgewachsen mit Gedichten von Pablo Neruda, Erich Fried, Masha Kaleko, Rose Ausländer. Heute gefallen mir die Zeilen von Julia Mantel, Kate Tempest oder Musiker:innen aus dem Spoken Word-Umfeld. Mary Oliver habe ich über Zitate entdeckt, die auf Social Media gepostet wurden. Irgendwann bin ich der Dichterin nachgegangen und in ihr Werk abgetaucht. Jetzt liegt ihre Gedichtsammlung auf meinem Schreibtisch. Zwischendurch blättere ich darin und lese zwei, drei Gedichte. Oft fotografiere ich sie ab und schicke sie einem Menschen, von dem ich meine, dass die Zeilen passen. Und jedes Mal, wenn ich das tue, bekomme ich die begeisterte Frage: Von wem ist das Gedicht?

Warum sollte mich das interessieren?
Weil das Lesen von Poesie eine andere Leseerfahrung ist. Weil Poesie die Kraft hat, sich im Moment zu fühlen. Weil Gedichte wie Bilder sind. Weil die Gedichte von Mary Oliver auf der Stelle eine tiefe Sehnsucht nach dem Leben erzeugen.

Wer ist die Autorin?
Mary Oliver wurde 1935 in Ohio geboren und ist 2019 in Florida gestorben. Seit den 50er Jahren lebte sie mit ihrer Partnerin, der Fotografin Molly Malone Cook. 20 Gedichtbände wurden Zeit ihres Lebens veröffentlicht. Mary Oliver gewann unter anderem den Pulitzer-Preis und zählt zu den meistgelesenen US-amerikanischen Dichterinnen.  

Kostprobe 

Ich sorgte mich

Ich sorgte mich um vieles. Wächst der Garten, fließen
die Flüsse in die richtige Richtung, dreht die Erde
sich, wie man sie lehrte, und wenn nicht, wie
soll ich es korrigieren?

Hatte ich recht, lag ich falsch, wird man mir vergeben,
kann ich etwas besser machen?
Werde ich fähig sein zu singen? Selbst die Spatzen
sind dazu in der Lage, und ich, nun ja,
bin hoffnungslos.

Schwindet mein Augenlicht oder bilde ich mir das nur ein,
bekomme ich Wundstarrkrampf,
Rheuma oder Demenz?

Am Ende erkannte ich, dass Sorgen nichts bringen.
Und ich gab sie auf. Und nahm meinen
alten Körper, ging hinaus in den
Morgen und sang.

Mary Oliver, Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben – Gesammelte Gedichte, Diogenes, Hardcover, übersetzt von Jürgen Brocan, 448 Seiten, 28 Euro
Bestellen könnt Ihr die Gedichtsammlung online bei unserer Buchhandlung des Herzens cohen + dobbernig in Hamburg. Ansonsten kauft es bei eurer lokalen Buchhandlung.

Besprechung: Anette Frisch

Close