Close

Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

Close

Es befinden sich keine Produkte im Warenkorb.

Lesen oder lassen?

Buchbesprechung „Beklaute Frauen“ von Leonie Schöler

Wie Frauen Geschichte schrieben – und Männer den Ruhm bekamen. Die Historikerin Leonie Schöler spürt in ihrem Buch unsichtbare Heldinnen der Geschichte auf. Katrin Schwahlen hat es gelesen und dabei viel gelernt.

Worum geht es?
Die Historikerin und Journalistin Leonie Schöler hat sich auf die Suche gemacht nach Frauen in Wissenschaft, Kunst, Kultur und vielen anderen Bereichen. Bei ihrer Reise durch die Jahrhunderte ist sie immer wieder darauf gestoßen, wie unsichtbar Menschen sind, die keine weißen, christlichen, mittelalten, europäischen Männer sind. Und macht uns schnell klar, dass (unsere) Geschichte nicht so ist, wie wir es in der Schule gelernt haben.

Warum sollte mich das interessieren?
Die Autorin selbst bringt es auf den Punkt: „Alles ist, wie es ist, weil alles so war, wie es war. Wenn wir ganz genau hinschauen, bietet uns die Geschichte viele Antworten auf heutige Fragen.“ Mich hat es interessiert, weil wir nur mit guten Vorbildern und weiblich gelesenen Role Models weiterkommen. Und Leonie Schöler macht es uns mit ihrem Buch leicht, die vergangenen 200 Jahre Revue passieren zu lassen und mehr über die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte zu erfahren. Zu sehen, wie viel die Herabwürdigung von Frauen mit Kapitalismus und Nationalismus zu tun hat – also mit Macht und Ausgrenzung.

Was kann es?
Den eigenen Blick weiten dafür, was im Laufe der menschlichen Entwicklung unterschlagen wurde – und worauf wir in Zukunft mehr achten sollten. Wir sind Kinder unserer Zeit und sind mit den gesellschaftlichen Klischees und Vorurteilen der jeweiligen sogenannten Generationen groß geworden. Es wird also Zeit, dass wir uns emanzipieren und freimachen vom Jäger-und-Sammlerinnen-Märchen, vom Matilda-Effekt und der Great Man Theory.

Wie ist es geschrieben?
Leonie Schöler nimmt uns mit auf die Barrikaden der französischen Revolution, wirft einen Blick auf die Endstation Ehe und die ungleichen Bündnisse zwischen Zusammenarbeit und Ausbeutung. Sie räumt auf mit dem Klischee der Frau als Muse des männlichen Künstlers und der blutrünstigen Amazone. Sie macht Wissenschaftlerinnen sichtbar, deren Kollegen den Nobelpreis bekommen haben für die gemeinsame Arbeit – ohne die Frau auch nur zu erwähnen. Sie schreibt über Frauen im Krieg, aber auch über Identitätspolitik und weißen Feminismus, über das Infragestellen von Weiblichkeit und gleichzeitiger Hypersexualisierung von Frauenkörpern.
Dabei reiht sie die einzelnen Themen nicht wahllos aneinander, sondern führt uns Schritt für Schritt weiter auf dem Weg der Ungleichheit und Unsichtbarkeit. Und sie macht es uns leicht, mit anderen Augen auf die „männlich-eurozentrisch geprägte (…) Geschichtsschreibung“ zu blicken und „Frauen, queere Personen, People of Color und andere Minderheiten“ zu sehen.
Anders als im Geschichtsunterricht ist jede Menge bei mir hängengeblieben – ein klares Zeichen für einen interessanten Schreibstil, gut kombinierte Informationen und lockere Sprache. Ebenso wie es als Motto auf der Website von Leonie Schöler steht: Geschichte, Aufklärung und Unterhaltung.

Warum ist das gut?
Weil es wieder deutlich macht, dass gleiche Rechte zu haben nicht automatisch bedeutet, gleichberechtigt leben zu können. Von einzeln vorgestellten Frauen und ihren Verdiensten schlägt die Autorin in der zweiten Hälfte ihres Buchs einen Bogen zum Heute und damit zu Widerstand und Bildung. Nüchtern und pointiert beschreibt sie das Phänomen der „wiederentdeckten“ Frau. Schöler demontiert männliches Verhalten (das leider auch von einigen Frauen gepflegt wird) sehr präzise und mit zahlreichen Belegen. Immer wieder wird klar, dass „Hidden Women“ kein individuelles Problem sind, sondern ein strukturelles. In ihrem Buch geht es nicht um Einzelschicksale, auch wenn diese ab und an beispielhaft vorgestellt werden, sondern um das System und das Gesellschaftskonzept, das dahintersteckt.
Für die Wissenschaftlerinnen unter uns hat sie ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis zusammengestellt und verweist auf Primär- und Sekundärliteratur, Archivmaterial, Gesetzestexte, Urteile, Statistiken und Umfragen. Und wer noch mehr über das Thema wissen will, sollte den Literaturempfehlungen von Leonie Schöler folgen.

Was hakt?
Ist nur ein kleiner Haken und auch eher ein Wikipedia-Problem: Dort haben viele Personen keine Mutter, sondern sind nur Sohn bzw. Tochter eines Vaters. Die Mutter wird einfach weggelassen (!). Das ist Schöler auch bei Mária Lebstück passiert, die sie als Tochter eines deutschen Kaufmanns vorstellt. Parthenogenese auf männliche Art?

Kostprobe:
„Während ich dieses Buch geschrieben habe, ist mir eine Sache ganz besonders aufgefallen: Fast alle, mit denen ich über das Thema gesprochen habe, hatten dazu etwas zu sagen … Viele Frauen … berichteten mir von Beispielen aus ihrem eigenen Leben, in denen sie sich beklaut fühlten. Sie schilderten mir, wie die Forschungsergebnisse der Doktorarbeit auf einmal als Erfolg des Doktorvaters verbucht wurden. Wie ein Kollege schamlos ihre Ideen als seine eigenen ausgegeben hat. Wie sie immer wieder zu hören bekommen, was für einen tollen Typ sie sich geangelt haben, wenn er mal wieder die gemeinsamen Kinder „babysittet“. Wie sie an der Uni alles gegeben haben und der Professor trotzdem ausschließlich weiße Kommilitoninnen als studentische Hilfskräfte einstellte. Wie sie Auszeichnungen für Teamleistungen erhalten sollten und nur die Männer auf die Bühne gebeten wurden. Wie selbst renommierte Projekte, an denen sie nur mit Frauen arbeiten, keine Fördergelder erhielten, sondern wie eine Art soziales Engagement behandelt wurden. Wie sie am Ende des Praktikums einen Zettel mit der Telefonnummer der Gleichstellungsbeauftragten in die Hand gedrückt bekamen, um sich über die rassistischen und sexistischen Sprüche des einen Kollegen zu beschweren, während dem männlichen Praktikanten ein Job angeboten wurde. Wie sie die Rollenverteilung in ihrer eigenen Ehe so anders machen wollten als die Eltern – und den Gatten jetzt doch jeden Tag um Hilfe im Haushalt bitten müssen. Um es also an dieser Stelle noch einmal klar zu unterstreichen: Jede beklaute Frau ist kein Einzelfall, sondern Teil eines Systems, das uns alle betrifft und bis heute wirkt. … Der Anspruch müsste aber eigentlich sein: Lasst uns die Welt so abbilden, wie sie eigentlich ist. Also eine Welt, in der Frauen, People of Color, Menschen mit Behinderung und LGBQIA+-Personen einen sehr großen Anteil haben.“

Über die Autorin
Leonie Schöler, geboren 1993, ist Historikerin, Journalistin und Moderatorin. Bei TikTok und Instagram vermittelt sie als @heeyleonie spannendes geschichtliches Wissen über Vergangenheit und Gegenwart. Sie arbeitet für mehrere Medien, ihr Schwerpunkt ist es, gesellschaftspolitische Themen in unterschiedlichen digitalen Formaten umzusetzen und damit vor allem jüngere Zielgruppen zu erreichen. Als Filmemacherin hat sie die achtteilige Videodokumentation „Die Wannseekonferenz“ umgesetzt, für ZDFinfo hat sie den YouTube-Kanal Heureka moderiert.

Leonie Schöler: „Beklaute Frauen. Denkerinnen, Forscherinnen, Pionierinnen: Die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte.“ Penguin Verlag, Hardcover, Pappband, 416 Seiten, 22 Euro
Bestellen könnt Ihr all unsere Buchempfehlungen bei unserer Buchhandlung des Herzens: cohen + dobbernig in Hamburg. Ansonsten kauft es bei Eurer lokalen Buchhandlung.

Besprechung: Katrin Schwahlen
katrinschwahlen.de
Instagram und Mastodon: @wechselwissen

Close