Jeden Monat veröffentlichen wir ein Gedicht der Lyrikerin Julia Mantel. In den Versen der Frankfurterin geht es um Frauen, ums Fühlen und um die Fallen des Lebens. Wir lieben die Kraft und die Zartheit, die Julia Mantel in ihren Werken versprüht und die sie einzigartig machen.
Im Wispertal
röhren die Motorradfahrer
in ihren Röhrenjeans
und legen sich als Platzhirsche
ambitioniert knatternd
in die Kurven der Straße —
alles für die Girls.
Ich dagegen schwitze auf dem Hochsitz.
Klima und Klimakterium
geben sich ein Stelldichein.
Kein Stelldichein geben sich
jedoch die wirklichen Platzhirsche
weil es viel zu warm ist für diese Jahreszeit
und das Röhren der Motorradfahrer
um die Ecke zu laut.
Wir erwarten geduldig ihre Schreie.
In der Stadt nimmt man am meisten wahr
was in der Zeitung oder in den Zeitschriften steht
oder eben seit ein paar Jahren
auf dem Display des Smartphones erscheint.
Dafür kommt es hier im Rheingau
nun zum Supergau:
Drei lange Stunden
warten wir ungewiss
auf die Brunft
und die Handies bleiben ausgeschaltet.
Wir könnten nicht mal geortet werden:
das letzte Abenteuer unserer digitalen Zeit
ist über uns hereingebrochen.
Auch um die Tiere potentiell nicht zu stören,
wispern wir.
Wir wispern im Wispertal.
Die Grüntöne ringsherum entspannen unsere Augen
und unsere Seelen: Entgiftung auf der ganzen Linie.
„Ich habe keine Kinder“, sagt der Förster schließlich.
„Ich habe mir vorgenommen, bis an mein Lebensende
im Wald zu arbeiten.“
„Ich habe auch keine Kinder“, denke ich bei mir.
„Ich muss bis an mein Lebensende Gedichte schreiben.“
Psssst! Hört mal!
Plötzlich beginnen die Hirsche
überall zu röhren.
Es ist kühler geworden,
sie markieren ihr Revier
mit jedem Schrei in den dunklen Wald.
Unvermittelt sind wir
zu Konzertbesuchern geworden
und haben lange auf den Einlass gewartet.
Alle legen sich ins Zeug,
rufen laut
um ihren guten Ruf:
Alles für die Girls.
Julia Mantel, geboren 1974 in Ffm, Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg. Seit 2000 Konzentration auf Lyrik. 2005 Gründung des Konzeptlabels »Unvermittelbar«
Publikation von vier Lyrikbänden: new poems (2008), dreh mich nicht um (2011), Der Bäcker gibt mir das Brot auch so (2018) und Wenn du eigentlich denkst, die Karibik steht Dir zu (2021).
Gründungsmitglied des Frankfurter Lyrikkollektivs „Salon Fluchtentier“, Vize-Vorsitzende des Hessischen Schriftstellerverbands (VS). Lebt als Lyrikerin, Strickkünstlerin & Allroundjobberin in Frankfurt am Main.
Foto: ©Nina Werth