Sie hat mit Pussy Riot kollaboriert, mit den Black Panthers und mit der Black Lives Matter-Bewegung in New York – Marinella Senatore zählt zu den renommiertesten künstlerischen Aktivistinnen. Für ihre Arbeit sitzt sie nicht in ihrem Atelier in Rom, sondern veranstaltet Workshops mit Menschen weltweit. In ihren Zeichnungen, Installationen und Filmen, die bis zum 8. September im Kunsthaus Stade zu sehen sind, reflektiert die 47-Jährige diese Zusammenarbeit.
Anette Frisch hat mit Marinella Senatore gesprochen und Silke Burmester und Eva Häberle haben sie Anfang Juni bei ihrer Ausstellungseröffnung in Stade getroffen. Wir sind immer noch hin und weg von den Arbeiten und der Energie der Künstlerin.
Marinella, Du bist schon mit 15 Jahren Aktivistin geworden. Wie kam es dazu?
Marinella Senatore: Das hat mit meinen Wurzeln zu tun. Ich bin im Süden Italiens in einem sehr patriarchalischen Umfeld aufgewachsen. Ich selbst war Opfer häuslicher Gewalt. Mein junges Ich hat versucht zu überleben, indem es Wege aus der Misere suchte und fand. Ich habe mich für Feminismus interessiert und für weiße Vorherrschaft und begonnen, gegen die Ungerechtigkeit anzukämpfen.
Nach und nach kam ich in Kontakt mit Gruppen wie Black Lives Matter, den Young Lords und den ehemaligen Black Panthers. Ich schloss mich den Kampagnen, Manifestationen und Straßenversammlungen an. Ich bin fasziniert von Befreiungsbewegungen. Zuletzt habe ich mit Pussy Riot zusammengearbeitet.
Wie sieht Dein Fazit nach 31 Jahren Protest aus?
Es gibt noch viel zu tun. Wir Frauen müssen immer noch um Gleichberechtigung kämpfen. Es ist doch interessant zu sehen: Jedes Mal, wenn eine neue Regierung an die Macht kommt, steht der Körper der Frau im Zentrum politischer Debatten. Wir schreiben das Jahr 2024 und wir sprechen wieder über Abtreibung? Giorgia Meloni, die italienische Ministerpräsidentin, will Abtreibungen erschweren, nahezu 100 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in Italien verweigern den Eingriff bei jungen Frauen. Das hat nichts mit dem Vatikan oder dem Glauben zu tun. Italiener:innen sind nicht mehr religiös. Das alles ist politisch getrieben, es geht um Kontrolle. Wir befinden uns in dunklen Zeiten. Es ist schrecklich.
Was gibt Dir Hoffnung?
Dunkelheit und Licht gehören für mich zusammen. Klar, es ist eine dunkle Zeit und das nicht erst seit gestern. Aber genau genommen ist es auch die Zeit, in der sich Poesie, Kunst und Hoffnung entfalten können. Meine Kunst ist nicht düster, sondern voller Freude. In meinen partizipativen Projekten arbeite ich mit Menschen und erlebe, welche Kraft in ihnen steckt. Ich erfahre, wie wandlungsfähig sie sind, wie kreativ, und welche Schönheit in ihnen liegt. Meine Arbeit beweist, dass es Hoffnung gibt.
Du bringst Aktivismus und Kunst zusammen. Wie arbeitest Du?
Als Aktivistin rufe ich zum Protest auf, bewege eine Situation, bringe sie auf die Straße und mache sie sichtbar. Aber so eine Aktion ist dann vorbei. Als Künstlerin nutze ich das, was in meinen Projekten entstanden ist und transformiere es künstlerisch. Das können Sätze, Fotografien, Collagen, Zeichnungen oder Installationen sein. Für mich ist Kunst nie frei von Ideologie. Alles, was Du als Künstlerin oder Künstler in die Welt stellst, ist politisch. Ich habe den Anspruch, dass meine Arbeit als Aktivistin und Künstlerin gesellschaftliche Asymmetrien verändert.
Ich aktiviere Menschen, aber ich kontrolliere sie nicht.
Marinella Senatore
Viele Deiner Objekte, die man in Stade sehen kann, sind in Deinem Performance-Projekt School of Narrative Dance entstanden. Welche Idee steckt dahinter?
Die School of Narrative Dance ist eine Straßenparade, die von Bewohner:innen einer Gemeinde entwickelt und veranstaltet wird. Ich habe das Konzept im Jahr 2012 aufgebaut, seitdem waren mehr als acht Millionen Menschen weltweit darin involviert. Meine Aufgabe ist es, Menschen für das Projekt zu aktivieren und eine Arbeitsatmosphäre zu schaffen, in der sie sich entfalten können. Ohne Angst, produktiv sein zu müssen, mit anderen zu konkurrieren oder sozial ausgegrenzt zu werden. Sobald ich einen sicheren Rahmen geschaffen habe, verlasse ich den Prozess und die Gruppe arbeitet allein weiter. Das ist ein wichtiger Aspekt meiner Arbeit: Ich aktiviere, aber ich kontrolliere nicht. Ich schaffe den Raum und die Zeit, in dem sich Menschen ausdehnen können – das ist eins meiner Lieblingsworte.
Warum?
Ich glaube, dass Kunst Menschen hilft, ihr Inneres sichtbar zu machen. Wer sich in einen kreativen Prozess begibt, sei es durch Malen oder Tanzen, wird sich selbst bewusster und befreit sich von den Vorstellungen anderer. Das hat eine heilende Wirkung. Ich weiß, dass Worte wie Heilung im Kunstbereich belächelt werden, aber für mich ist dieser Zusammenhang wichtig.
Ausstellung im Kunsthaus Stade bis 8. September 2024
Die Schau mit dem Titel „Together We Stand“ gibt einen Einblick in die partizipative Arbeit von Marinella Senatore und versammelt Lichtobjekte, Zeichnungen, Filme, Collagen oder Skulpturen. Begleitend zur Ausstellung haben die Künstlerin, das Kunsthaus Stade, unter der Leitung der Kuratorin Luisa Fink, und die Stadt ein Programm entwickelt, das den Fokus auf die Zusammengehörigkeit vor Ort legt. Informationen zum Programm und zur Ausstellung findet Ihr hier
© Marinella Senatore, THE SCHOOL OF NARRATIVE DANCE, Venedig 2015, als Teil von The Creative Time, Summit 56th Venice Biennale, Courtesy the Artist und Mazzoleni, London – Torino, Foto: Andrea Samonà
Wenn Kunst so kraftvoll ist, warum fühlen sich viele Menschen ihr dennoch nicht nah?
Der Kunstmarkt spiegelt oft die Interessen von Eliten wider. Museumsverantwortliche beschweren sich darüber, dass „normale“ Menschen nicht in die Ausstellungen kommen. Aber warum sollten sie sich Werke ansehen, die konzeptuell nichts mit ihrem Leben zu tun haben? Sie werden gar nicht angesprochen. Ich kann das absolut nachvollziehen. Ich fühle mich nach einer Ausstellung deprimiert, die nichts mit dem Leben zu tun hat.
Wenn mir aber etwas gefällt, ich es als sinnvoll empfinde, dann kann das meinen Tag verändern, sogar meinen Monat oder mein zukünftiges Handeln. Du kennst das, wenn Dir jemand erzählt, dass ein Film ihr oder sein Leben verändert hat? Das stimmt! Ein Film, ein Song kann Dich aus einer dunklen Stimmung herausführen und Dein Gefühl verändern. Du empfindest anders, agierst anders und vielleicht öffnest Du Dich für Möglichkeiten, die Du vorher nicht gesehen hast. Kunst ist nützlich, aber sie muss Menschen berücksichtigen.
Ist Kunst ohne soziale Wirkung keine Kunst?
Es gibt Künstler:innen, die einen sehr persönlichen, nahezu intimen Ansatz haben. Für mich zählt Félix González-Torres dazu. Seine Arbeiten sprechen eine universelle Sprache, die Menschen erreicht. Ich kritisiere Künstler:innen, die für eine Elite arbeiten. Die Art und Weise, wie sie Kunst produzieren, hat sich seit der Renaissance nicht verändert: Sie werden von reichen Leuten beauftragt, und tun, was diese reichen Leute möchten. Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig es als Künstlerin ist, zu fühlen. Auch das ist eine Zustandsbeschreibung, die der Kunstmarkt nicht cool findet.
War es für Dich als Künstlerin und Aktivistin einfach, im Kunstmarkt Fuß zu fassen und Geld zu verdienen?
Ganz und gar nicht. Aber das war meine Entscheidung. Inzwischen bin ich etabliert, aber ich achte genau darauf, wem ich meine Werke verkaufe, wo ich ausstelle und mit wem ich arbeite.
Ich recherchiere viel, deshalb weiß ich, dass eine Künstlerin 15 Prozent weniger für ihre Arbeit bekommt als ein Kollege. Sammler, Käufer und Galeristen unterstellen Künstlerinnen, sie seien zu anspruchsvoll und geldgierig, wenn sie eine angemessene Bezahlung fordern.
Diese Ungerechtigkeit setzt sich in der gesamten Kunstwelt fort. Es gibt offensichtlich kein Interesse daran, die Kunstgeschichte aus einer feministischen Perspektive neu zu überdenken. Wir rühren nicht am Image von Pablo Picasso, der seine Modelle für seine Zwecke benutzte und viele Ideen von anderen stahl. Er wird weiterhin als großer Künstler gefeiert. Wir akzeptieren das Narrativ, dass Künstlerinnen erst sehr spät angefangen haben, Kunst zu machen. Es ist nicht erlaubt, die Geschichte umzuschreiben, die im Übrigen die Kunst indigener Völker völlig ignoriert. Das ist vollkommen verrückt!
Marinella Senatore ist interdisziplinäre Künstlerin, Dozentin und Aktivistin. Sie zählt zu den wichtigsten Vertreter:innen einer weltweiten Bewegung, die sich für einen gesellschaftlichen Wandel einsetzt. Ausgebildet in Kunst, Orchesterspiel und Filmregie entwickelt die Italienerin kollaborative Prozesse. Dazu gehören unter anderem das Filmprojekt Nui Simu / That’s Us (2010) mit Minenarbeitern auf Sizilien, die Oper Rosas (2012) mit mehr als 20.000 Teilnehmer:innen weltweit oder ihre freie Radiostation Estman Radio. Die Webseite gibt einen guten Einblick in die Vielfältigkeit der Arbeit von Marinella Senatore.
© Marinella Senatore, Foto: Marco Anelli
Kuratorin unserer Palast-Galerie ist Anette Frisch, sie hat auch das Interview geführt.