Wir schreiben das Jahr 2119 und begleiten zwei Terraläuferinnen im besten F*luxx-Alter auf einer Routinemission auf die Erde – die sich jedoch als kniffliger herausstellt als gedacht.
Eine fantastische Erzählung von Jana Paradigi in fünf Folgen.
Marsorbit, 22.August 2113
Ich erwachte aus einem tiefen Traum und schlug die Augen auf. Die beiden Gamer mir gegenüber schälten sich aus ihrer Formschaumkapsel, genau wie Tikki neben mir. Es ging uns gut. Wir waren am Leben. Unversehrt. Die AI meldete die üblichen Landevariablen. Als wäre nichts geschehen.
„Endlich wach, du Schlafmütze?“, fragte meine Freundin mit einem herausfordernden Lächeln.
Warum waren wir nicht tot? Wieso lebte der zweite Gamer wieder? Hatte ich das alles nur geträumt? Oder war dies ein grausamer allerletzter Traum? Ich stieg aus der Kapsel und ergriff Tikkis Arm. „Kneif mich. Verpass mir eine Ohrfeige oder sonst etwas, damit ich weiß, dass ich wach bin.“
Meine Freundin neigte den Kopf zur Seite und musterte mich. So ruhig. So gelassen. „Lass es zu.“
Was denn?, wollte ich fragen. Doch meine Lippen bewegten sich nicht. Ich nahm ihre Stimme war, doch ich hörte sie nicht. Ich roch ihren Schweiß und sah die Stoppeln auf ihrer sonst so gepflegten Glatze. Aber da war noch so viel mehr. In einem einzigen Augenblick konnte ich ihr gesamtes Sein wahrnehmen.
Ihren Herzschlag, die Wärme ihrer Haut, den Sauerstoffgehalt ihres Blutes, die Impulsgeschwindigkeit der Neuronen in ihrem Nervensystem. Mein Gehirn verarbeitet die Informationen ganz selbstverständlich, als hätte dieser Supersinn schon immer in mir geschlummert. Doch das stimmte nicht.
Mein Verstand kreiselte um sich selbst. Es musste eine Erklärung geben. Für alles. Eine einfache Erklärung. Was war wahr? Woran ließ sich Realität festmachen, wenn ich mir selbst nicht mehr trauen konnte? War ich am Leben oder war das der Tod? Verstand ich deshalb so viel mehr? Auch wenn ich nichts verstand? Weil ich in das große Ganze übergegangen war?
Mein Geist taumelte, stolperte und fiel in einen bodenlosen Abgrund. Tiefer und immer tiefer auf der Suche nach dem einen Steinchen, das mir Halt geben mochte. Eines, das die Kausalitätskette wieder anstieß und mich zurück in die Welt der Logik führen würde.
Erinnerungsfetzen rauschten an meinem inneren Auge vorbei. Der rote Faden meines Lebens. Schuld. Verlust. Versagen. Nur meinetwegen war meine große Liebe gestorben. Meine Frau. Mein Ein und Alles. Weil ich funktioniert hatte, statt zu leben. Weil ich meine Liebe für mich behalten hatte, statt sie mit ihr zu teilen. Statt mit ihr eine echte Familie zu gründen. Deshalb hatte sie es mit einem anderen versucht und war dabei umgekommen.
Der Rest meines armseligen Daseins war Ausdruck meiner Buße gewesen. Jeden Tag. Die Nächte hingegen hatten meinen Trieben gehört. Um zu überleben und am nächsten Tag die eigene Geißelung fortzusetzen. Ohne je irgendwo anzukommen, ohne Ausweg aus diesem Rad des Leids. Bis jemand auf den abgefahrenen Gleisen die Weiche umgestellte.
Jetzt.
Ich erinnerte mich und endlich war alles so deutlich und klar, dass ich auflachte. Der Wunsch zu überleben war so groß gewesen. Er allein hatte mich angetrieben, mir die Angst vor dem Fremden genommen, als die Rettung geradewegs vom Himmel zu mir herabgestürzt war.
Die Lebensformen waren trotz einer harten Landung intakt geblieben. Lebensfähig, aber ohne Bewusstsein. Also versuchte ich mich, mit einem der Wesen zu verbinden. Ich streckte meine mentalen Hände nach ihm aus, kroch in seine Nervenbahnen, suchte die Verschmelzung der Zellen. Doch die Symbiose schlug fehl, die Lebensenergie entwich in roten Rinnsalen aus dem Körper. Sein System wies zu große Mängel auf und ich kannte die Strukturen des Systems noch zu wenig.
Bei der nächsten Lebensform klappte es. Ich drang in sie ein und fand in ihr Nahrung, als sie erwachte. Doch ihr Geist war verwirrt, der Weg hinein so verworren. Wir wurden davongetragen von ihrem Körper. Fort von dem Schiff, das mir die Flucht aus dieser Ödnis, in der ich unabsichtlich gelandet war, ermöglichen sollte.
Also kehrten wir zurück. Ich und der Körper, als es uns besser ging. Doch die anderen waren verschwunden. Und wieder schien meine Rettung in weite Ferne gerückt.
Verzweifelt folgte ich dem Pfad ihrer Körpersignatur, bis ich sie eingeholt hatte. Ihre Geister waren so voller Leben. Doch ihre Leiber hatten Schaden genommen, zerfielen Zelle für Zelle. Daran konnten auch ihre Schiffssysteme nichts mehr ändern. Deshalb beschloss ich mich zu teilen, um ihnen für die Rettung zu danken.
Ich verstand jetzt so viel mehr von ihrem Aufbau und ihrer Essenz. Ein so machtvoller Baukasten des Lebens. So vielfältig in seinen Möglichkeiten und dabei im Außen so filigran und zerbrechlich, dass es mich demütig stimmte. Selbst der fehlerhafte Körper ließ sich mit Ruhe und Geduld erneuern. Ein Arm konnte nachwachsen.
Wir vier waren nun eins. Mein Geist war ihr Geist. Und ihr Körper war meiner. Und das erste Mal überhaupt verstand ich, dass auch der einen Willen besitzen konnte. Er war nicht nur ein Vehikel oder Werkzeug. Er barg einen eigenen Kern. Einen emotionalen Speicher. War Reproduktionsfabrik. Das eigentliche Kommunikationszentrum, das dem Geist Befehle erteilte.
„Ich habe Hunger“, sagten wir und lachten, als wir vier gemeinsam den Hangar betraten. Weil wir gefunden hatten, was wir brauchten.
Und wenn wir uns satt gefressen hatten, würden wir ein Nest bauen, um uns erneut zu teilen. Bis unsere Familie wieder eins sein würde. Mit uns.
Mars, 19.Juli 2114
Population: 10 Millionen Menschen.
Fruchtbarkeitsrate: 100%
Regierungsform: Selbstverwaltung
ENDE
Die dazugehörigen vier Folgen findet ihr unten!
Jana Paradigi gehört zum Palais F*luxx-Kollektiv und schreibt seit einigen Jahren Fantasyliteratur. Wir dürfen mit der Genehmigung des Verlags diese Erzählung aus der Anthologie „Facetten der Zukunft“ (Erscheinungstermin 1. Oktober 2022) veröffentlichen. Vielen Dank dafür!
Bild: ©NovelArc