Buchbesprechung „Brief in der Nacht. Gedanken über Israel und Gaza“ von Chaja Polak

Die niederländische Schriftstellerin Chaja Polak hat den Holocaust überlebt und daher einen besonderen Blick auf die Terrorattacke der Hamas und den darauf folgenden Krieg im Gazastreifen. In ihrem Essay benennt sie Schmerz und Leiden der Menschen auf beiden Seiten der Grenzen. Für unsere Rezensentin Katrin Schwahlen ist das Buch bedrückend und hoffnungsvoll zugleich
Worum geht es?
Ihre „Gedanken über Israel und Gaza“ beginnt Polak mit der Geschichte von zwei jungen Journalisten. Der eine aus Israel, der andere aus Gaza. Sie sind sich so ähnlich, vom Alter, vom Aussehen, von ihrer Haltung und in dem gemeinsamen Wunsch, die Grenzen in den Köpfen der anderen zu überwinden. 2019 gründen die beiden das Projekt „Across the Walls“, in dem sie Menschen aus ihren Ländern zu Wort kommen lassen. Polak erzählt Polak auch die Geschichte ihres zweiten Mannes, dessen Familie ebenso wie ihre von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Sie beschreibt die Gefühle des Entwurzelt-Seins und verknüpft diese persönlichen Geschichten mit medialen Einschätzungen, politischen und wissenschaftlichen Aussagen. Und immer geht es der Autorin um Menschen, um Menschlichkeit, um Mitgefühl und Mut.
Warum sollte mich das interessieren?
In diesen schwarz-weißen Zeiten, in denen anscheinend immer nur eine Seite „Recht“ hat beziehungsweise das „Richtige“ tut, hat mich das Buch auf- und durchgerüttelt. Ich lebe in einem mehr oder weniger friedlichen Land, kenne Krieg nur aus den Nachrichten und den spärlichen Erzählungen meiner Großeltern. Ich lebe in einem Land, das eine besondere Beziehung zu Israel hat. In einem Land, in dem Antisemitismus immer öffentlicher und stärker wird. Es zieht mir das Herz zusammen, die Nachrichten aus Gaza und Israel zu lesen: Zehntausende Menschen, vor allem Kinder, sind gestorben, hunderttausende Gebäude zerstört. Menschen wurden entführt, gefoltert, vergewaltigt, ermordet. Ich verstehe nicht, wie Menschen Menschen so etwas antun.
Ist das spannend zu lesen?
Spannend ist nicht das richtige Wort. Es ist lehrreich im humanistischen Sinn. Es ist bedrückend, weil es mich an der Menschheit und Menschlichkeit zweifeln lässt. Es ist tröstend und hoffnungsvoll, weil Chaja Polak „… leidenschaftlich für eine Zukunft [argumentiert], in der Empathie und Verständigung die Grundlagen für einen dauerhaften Frieden bilden“.
In jedem ihrer Beiträge wird deutlich, wie behutsam und zugleich klar sie versucht, die richtigen Worte zu finden. Zum Beispiel im Gespräch mit ihrer Enkelin, die sich fragt, warum jeder sofort Partei ergreifen müsse. „Ich antworte ihr, dass es einfacher ist, sich rundheraus hinter die Palästinenser oder hinter Israel zu stellen, als den Mut dazu aufzubringen, die komplexe Situation zu betrachten und entsprechend zu handeln. Es hilft einem auch, sage ich ihr, ein Gefühl der Machtlosigkeit loszuwerden. Ohnmacht in Wut umzusetzen, eine klare Meinung zu formulieren und mit geballter Faust eine Losung rufend bei einer Demonstration mitzulaufen, gegen das eine oder gegen das andere zu sein, sage ich ihr, bietet einem sofortigen Trost.“
Über die Autorin
Chaja Polak wurde 1941 in Den Haag geboren. Sie ist Bildende Künstlerin und Schriftstellerin. In ihren Romanen beschäftigt sie sich mit dem Holocaust und ihrer Familiengeschichte.
Kostprobe
Juden, gerade Juden, sollten Empathie für das Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza empfinden. Denn schließlich wissen sie, was es bedeutet, keine Eltern mehr zu haben, wie Nol, und wie viel zu viele Kinder nach dem Holocaust, nach der Shoah. Gerade Juden sollten Gewalt ablehnen und nach jedem anderen Mittel suchen, um Sicherheit und Frieden zu erlangen. Weil sie nicht wollen, dass andere so leiden, wie sie selbst und ihre Familien gelitten haben. Und oft auch noch leiden. Weil sie wissen, was Leiden ist. Daher ist mein Wunsch auch so selbstverständlich: Kein Kind darf diese Angst durchleiden, allein auf bloßen Füßen am Fenster in der Nacht. Oder wo auch immer. Und ich weiß ebenso, dass jetzt, in diesem Moment, in Gaza wieder jeden Tag zahllose Kinder hinzukommen, die ohne Väter, ohne Mütter aufwachsen müssen, für immer von ihnen getrennt. Und es gibt israelische Kinder, die für immer von ihrer Mutter und ihrem Vater oder einem von beiden getrennt sind. Das ist der Grund, warum ich gegen diesen Krieg bin. (…)
Hat Israel nicht das Recht, sich zu verteidigen? Natürlich, aber nicht auf diese Weise. Der Konflikt, so haben die Journalistin und Autorin Hella Rottenberg und ich in einem Kommentar am 8. November 2023 in der Tageszeitung de Volkskrant geschrieben, hätte sofort in die diplomatische Arena verlagert werden müssen. Dann wären die Geiseln aller Wahrscheinlichkeit nach längst freigelassen worden, und es hätte nicht Zehntausende zivile Opfer gegeben. (…)
Das wurde uns eingeschärft: Man lässt einen anderen Menschen nicht leiden, weil er oder sie zu einem anderen Volk gehört oder zu einer anderen Rasse oder sich zu einem anderen Glauben bekennt. Das war eine Wahrheit, die uns Kindern ans Herz gelegt wurde. Eine Wahrheit, unverbrüchlich wie ein Fels.“ (…)
Chaja Polak, Brief in der Nacht. Gedanken über Israel und Gaza, übersetzt von Bärbel Jänicke, Droemer, 128 Seiten, 18 Euro
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Besprechung: Katrin Schwahlen, bei Instagram und Mastodon: @wechselwissen