Das Wunder des Nudelsalats
Es ist zwei Tage vor Silvester. Ich bin am Fasten, wie fast immer zwischen den Jahren. Vermutlich würde es mein Körper ohne Fastenprogramm zum Jahresende nicht mehr ins neue Jahr schaffen. Zumindest gefühlt. Am Nachmittag, als ich mit Leberwickel auf dem Bett rumschlunze, ruft meine Mama an. Sie lebt in einem Pflegeheim im Hessischen, ist weit über 90 und mitunter fitter als ich. Es geht um die Silvesterpläne. In ihrem Heim ist ein Riesen-Buffet geplant, außerdem Musik und Spiele. In den kommenden 20 Minuten erzählt sie mir ohne Pause, was es dann alles zu essen geben wird: „Nudelsalat, Waldorfsalat, Kartoffelsalat, Würstchen, Lachs.“ Während ihre Aufzählung weitergeht, knurrt mein Magen beleidigt. „Mensch Mama, ist ja toll, dass sie so viel für euch vorbereiten, aber du musst mir nicht alles einzeln aufzählen.“ Mein Zwischenruf interessiert meine Mutter herzlich wenig. „Und sie backen noch Brot auf und als Nachtisch gibt es Tiramisu und Wackelpudding …“ Sie ist nicht zu stoppen.
Ich überlege, wie hoch eigentlich der Anteil unserer Telefonate ist, der sich um Essen dreht. Schätzungsweise 60 bis 70 Prozent. Vor jedem besonderen Tag oder Fest graut es mir. Weil dann wieder endlose Aufzählungen vermeintlicher Leckereien erfolgen.
Während ich Jahrzehnte mehr oder minder zermürbt diese Essensmonologe über mich habe ergehen lassen, ohne sie zu verstehen, gab mir ein Freund vor längerem den entscheidenden Hinweis. Meine Mutter hat den Krieg erlebt und damit Hunger. Die Fülle an Lebensmittel ist für sie auch über 70 Jahre nach Kriegsende immer noch ein Wunder. Nachdem ich das verstanden habe, ist meine Toleranz extrem gestiegen. Notfalls lege ich bei solchen Gesprächen das Telefon zur Seite und fange an, Steuerunterlagen zu ordnen oder meine Unterlagen fürs Büro zusammenzupacken. Soll sie doch 20 Minuten übers Essen reden, wenn es ihr guttut. Oftmals ertappe ich mich auch dabei, dass ich selbst unsere unendliche Auswahl an Essbarem wieder mehr zu schätzen weiß, wenn ich ihr zugehört habe.
An diesem Silvester unterbreche ich mein Fasten und feiere mal wieder mit Freund:innen. An Neujahr rufe ich meine Mutter an und erzähle ihr begeistert, was es bei unserem Raclette alles an Beilagen zu essen gab. Bis sie barsch ins Telefon bellt: „Erzähl nicht so viel übers Essen, das langweilt mich.“ Um mir danach in Seelenruhe noch mal das Silvester-Buffet im Pflegeheim aufzuzählen. In der Nacht danach träume ich von riesigen Bergen von Nudelsalat. So wie man sie in der Studienzeit gemacht hat, mit billigem Schinken und extra viel Mayonnaise. Am nächsten Morgen erwache ich mit schalem Geschmack im Mund und gehe zurück ins Fastenprogramm.
Ingeborg Trampe
Die Fachfrau für PR ist durch ihre Arbeit rund um Hamburgs Kunst, Kultur und Genüsslichkeiten immer eine gute Adresse auf die Frage, where to go. Alle 14 Tage beschreibt sie für uns „what to avoid“, was es zu meiden gilt. Ihre Mutter