Diagnose: akute Telefonitis
Meine Mama hat eine Dauerkrankheit: Telefonitis. Leider wirkt sich das nicht nur auf das Umfeld aus, das sich über ihre stundenlangen Anrufe freut, sondern auch auf mich. Egal zu welcher Tageszeit, für sie gibt es immer einen dringenden Grund anzurufen. Alle meine Versuche, ihr klarzumachen, dass selbstständig arbeiten nicht bedeutet, dauernd Privatgespräche während der Arbeitszeit zu führen, liefen ins Leere. Trotzdem kann ich die Anrufe nicht einfach ignorieren. Schließlich könnte ja in ihrem Alter immer was passiert sein. Das denke ich jedoch seit über 20 Jahren bei jedem Call.
Neulich rief sie mich an und war völlig aufgelöst. Wegen der Skispringer in Willingen. „Die haben mir so leidgetan, bei dem schlechten Wetter springen zu müssen. Nein, dieser Wind und Regen. Und dann dieser sympathische Sieger…“ Innerlich hatte ich schon abgeschaltet, da ich dringend einen Workshop vorbereiten musste. „Mama, ich habe jetzt keine Zeit, wir können heute Abend sprechen.“ Doch meine Mama plapperte einfach über mich hinweg. Irgendwann legte ich den Hörer zur Seite. Ich habe mal gelesen, dass man Dauerplaudertaschen zum Einhalten bekommt, wenn man einfach am anderen Ende der Leitung still ist. Also kein „Aha“ oder bestätigendes „Hm“ in den Hörer brummt, sondern einfach die Klappe hält. Bei meiner Mutter verfängt die Strategie allerdings nicht. Egal, ob ich was sage oder nicht, sie plaudert immer munter weiter, bis sie all ihre Themen platziert hat.
Um es vorwegzusagen, meine Mutter leidet nicht unter Einsamkeit, sie hat viel Ansprache und Angebote in ihrem Pflegeheim. Sie hat auch früher schon gerne sehr viel geredet. Es gibt Tage, da kann ich gut damit umgehen, wenn sie mir über 60 Minuten und länger aus ihrer Welt erzählt. Von Menschen, die ich nicht kenne. Den Krankheiten anderer Leute, die ich nicht hören möchte. Ihre Beschwerden über zu wenig Personal in ihrem Pflegeheim, weil nicht jeder sofort springt, wenn sie etwas braucht oder will. Mehrmals pro Woche kreisen wir um immer die gleichen Themen, auch wenn ich sie schon dreimal gehört habe. Mitunter reißt mir aber auch der Geduldsfaden, was mir am Ende leidtut. Sie hat halt ein großes Mitteilungsbedürfnis.
Vor einiger Zeit kam ich nun endlich auf einen smarten Dreh, regelmäßig Telefonate mit ihr zu führen, ohne dass sie immer ausarten. So funktioniert es wunderbar, etwa 15 Minuten bevor sie zum Essen geht, mit ihr zu telefonieren. Alles Wichtige wird in Windeseile besprochen, denn auf gar keinen Fall würde meine Mutter eine Mahlzeit verpassen. Selbst wenn es nur Graubrot mit Käse ist. Darüber hinaus bin ich durch ihre Endlos-Tiraden, bei denen ich dann doch mal genauer hingehört habe, bestens über ihre Lieblingssendungen informiert. So gehört die Serie „In aller Freundschaft – Die jungen Ärzte“ zu den Highlights ihrer Woche. Sie läuft donnerstags ab kurz vor sieben. Meine Mutter ist entsprechend schmallippig, wenn ich in der Sendezeit anrufe. Meist legt sie mit dem Hinweis „Ich will jetzt meine Sendung gucken“ schnell auf. Alles, was sonst brandeilig ist, hat angesichts des schmucken Ärzteteams aus Erfurt keine Bedeutung mehr.
Ein Glück, dass meine Mutter noch nie etwas von einer Mediathek gehört hat. Denn so kann ich zumindest ab und zu auf friedliche Art ihre Telefonitis stoppen.
Ingeborg Trampe
Die Fachfrau für PR ist durch ihre Arbeit rund um Hamburgs Kunst, Kultur und Genüsslichkeiten immer eine gute Adresse auf die Frage, where to go. Monatlich beschreibt sie für uns „what to avoid“, was es zu meiden gilt. Ihre Mutter.