Wir schreiben das Jahr 2119 und begleiten zwei Terraläuferinnen im besten F*luxx-Alter auf einer Routinemission auf die Erde – die sich jedoch als kniffliger herausstellt als gedacht.
Eine fantastische Erzählung von Jana Paradigi in fünf Folgen.
Mars, 13. Februar 2113
Population: 8 Millionen Menschen.
Fruchtbarkeitsrate: 5%
Regierungsform: Ratsverwaltung
„Hossa, Liz. Bist du mit deinen Haaren in den Abgasstrahl eines Raumgleiters geraten? Oder soll der blaugrüne Strähnchenlook von deinem knittrigen Gesicht und dem Veilchen ablenken, das dir Shinou gestern Abend verpasst hat?“, begrüßte mich Tikki, als ich aus dem Lift in den Transferhangar trat.
„Das ist der letzte Schrei im Beta-Sektor. Aber davon verstehst du als Delta natürlich nichts. Ihr liebt es ja haarlos, damit man die grauen Strähnen nicht sieht, die euch vor lauter Neid wachsen.“
„Neid, auf was? Backpfeifen einstecken? Ich balg mich lieber im Bett mit jemandem, statt auf dem Boden einer Bar.“ Dennoch strich sich meine Freundin bei dem Thema automatisch über die angesprochene Glatze. Astro-Tattoos überdeckten die Narben, die sich über die Jahre darauf angesammelt hatten. Ihr Logbuch des Lebens.
Im Gegensatz zu mir hatte Tikki es bis in ihre Vierziger hinein geschafft, alle Gliedmaßen zu behalten. Ich dagegen hatte meinen Übermut Anfang zwanzig mit einem abgerissenen Arm bezahlt. Eine kleine Unachtsamkeit gepaart mit einer ordentlichen Dosis Selbstüberschätzung beim Ausbildungstraining im Orbit hatte gereicht. Aber eine Armprothese bot auch Vorteile. Man behielt seine Kraft und die guten Reflexe, selbst wenn der Rest des Körpers mit jedem Jahrzehnt ein wenig müder und langsamer wurde. Was nicht heißen sollte, dass ich mit Mitte fünfzig bereits zum alten Eisen gehörte.
„Wie schön, dass ihr mich heute so überaus offenherzig über euer Liebesleben aufklärt“, ertönte die Stimme unserer Teamleaderin Yuan. „Für die nächsten drei Monate werdet ihr euch beide allerdings mit Formschaumkuscheln in einer Stasiskapsel begnügen müssen. Und egal, wie heiß eure Träume dabei sein mögen, jeder bleibt in seiner eigenen. Verstanden?“
„Jawohl, Madam“, antworteten wir synchron.
„Sie ist so eine Spielverderberin“, raunte Tikki und zwinkerte mir zu, nachdem ich mich neben ihr eingereiht hatte.
Yuan verschränkte die Arme hinter dem Rücken und musterte uns. „Ist die Fähre startklar?“
„Jawohl, Madam.“
Yuan kniff die Augen zusammen. „Und seid ihr das auch?“
„Ja, Madam.“
Ein Mineralien-Kräuter-Cocktail war mein einziges Frühstück gewesen. Mehr hatte ich nach der Sauftour am Vorabend nicht heruntergebracht. Aber selbst kriechend wäre ich für diese Mission bereit gewesen. Nach dreißig Jahren Dienst waren mir die Abläufe in Fleisch und Blut übergegangen. Ich funktionierte, selbst wenn der Schädel brummte.
Wie immer schien unsere Teamleaderin meine Gedanken zu erraten. „Ich weiß, dass so ein Routineauftrag keine besondere Herausforderung für zwei Terraläuferinnen eurer Klasse darstellt. Aber das heißt nicht, dass ihr ihn auf die leichte Schulter nehmen dürft. Die Erde ist kein Kinderspielplatz. Wenn ihr ankommt, ist Hurrikan-Zeit im alteuropäischen Gebiet.“
„Wenn uns die AI nicht versehentlich mit Alkohol statt Flüssignahrung versorgt, werden wir bei der Ankunft nüchtern und in Form sein, Madam“, versprach ich, obwohl sich mein Hirn durchaus nach einem Drink sehnte.
Eine Krankheit, die so gut wie jede Terraläuferin irgendwann befiel. Um zu vergessen, um die Zeit zwischen den Aufträgen zu überbrücken und um sich die Bar-Liebeleien, mit denen man die Einsamkeit zu füllen versuchte, schön zu reden. Nüchtern betrachtet war mein Leben eine Aneinanderreihung von trostlosen Episoden, die kein Happy End mehr zuließen. Nicht, nachdem meine Frau – meine einzig wahre Liebe – gestorben war.
Das angesprochene Veilchen hatte ich mir dagegen ausnahmsweise von einem Kerl eingefangen, der dachte, er hätte Anspruch auf mich, nur weil ich ihm nach fünf Hot Shots meine Zunge in den Hals gesteckt hatte.
Die Sorte steinzeitlicher Macho, die wohl nie aussterben würde. Weder Weltkriege, noch Pandemien, Naturkatastrophen oder die Umsiedlung auf den Mars hatten das geändert. Doch der Diversity-Act und eine neue Weltordnung hatten das Gleichgewicht immerhin so weit verschoben, dass Kleingeister, die zu Hass und Tyrannei neigten, mittlerweile ein Minderheitendasein führten.
Genau genommen gehörte ich auch dazu. Vordergründig zu cool für diese Welt und in Wahrheit emotional so abgestumpft, dass nur echte Todesangst meinen Adrenalinpegel über die Baseline heben konnte. Das brachte eine Karriere in der Interstellar-Branche mit sich. Zumindest, wenn man die ersten Jahre mit Glück überlebt hatte.
„Bis null achthundert habt ihr die Ausrüstung kontrolliert und einen Systemcheck durchgeführt“, befahl Yuan in verschärftem Tonfall und holte mich aus meinem Gedankensumpf zurück. „Die Abflugsequenz ist bereits programmiert. Also schiebt eure Ärsche in die Fähre!“
„Jawohl, Madam!“
Erdorbit, 17.Mai 2113
„Achtung. Kurskorrektur. Automatischer Transfer der Energiereserven in die Navigationssysteme.“
Die Stimme der AI dröhnte in meinen Ohren, während mein Geist versuchte, die Trägheit des Stasisschlafes abzuschütteln.
„Was ist passiert?“, fragte ich, nachdem ich Tikki und die zwei deutlich jüngeren Gamer, die uns begleiteten, verschwommen vor mir ausgemacht hatte.
„Eine der alten, privaten Raumstationen im Erdorbit hat unvermittelt seine Flugbahn verlassen und ist auf Kollisionskurs mit der Sky-Link-Lounge“, erklärte Tikki. „Also werd besser ganz schnell klar im Kopf. So wie’s aussieht, wird das ne Höllenlandung!“
Und das war noch milde ausgedrückt. Wenn die beiden Stationen wirklich zusammenrasselten, käme das eher einem Todesurteil gleich. Im nahen Erdorbit tummelten sich seit der Musk-Offensive in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts mehrere hunderttausend Satelliten. Umherfliegende Trümmerteile der Raumstationen könnten einen Kaskadeneffekt auslösen, der unsere Fähre wie ein Hagelsturm aus Metallschrott treffen würde.
„Die Flugbahn zu verlassen ist nicht mehr möglich. Wir müssen da durch. Und zwar mit so viel Tesla-Schub, wie die elektromagnetischen Spulen hergeben“, erklärte Valdis, der schwarzhaarige Gamer, mit dem Tikki nach eigener Aussage locker befreundet war. Seine Stimme klang gefasst, doch an seinem Blick war pure Panik abzulesen, während er auf seiner virtuellen Tastatur die Simulationen durchspielte. Mit seinen geschätzten dreißig Jahren noch ein Jungspund in dieser Branche.
„Kursvariablen aktualisiert. Bitte begeben Sie sich zurück in die Statiskapseln, um Ihre Unversehrtheit zu garantieren“, meldete sich die AI erneut. Sie war es, die die Fähre lenkte. Die Gamer ergänzten die künstliche Intelligenz nur mit den wenigen Parametern, die ein menschlicher Verstand außerhalb jeder Logik zu bieten hatte, wenn Wahrscheinlichkeitsrechnung keine Lösung bot und die Kacke so richtig dampfte.
Üblicherweise verließen Gamer das Schiff nicht. Dafür waren wiederum Tikki und ich zuständig. Als Terraläuferinnen kontrollierten wir die autonomen Anlagen auf der Erdoberfläche, während eine Armee an Bots die Ernten in den Frachtraum schaffte. Keine besonders komplizierte Sache.
Um ehrlich zu sein, hielten wir Terraläuferinnen und Gamer nicht viel voneinander. Wir funktionierten wie Bauch und Gehirn. Ein System, das sich gerne widersprach. Doch das änderte nichts daran, dass wir gemeinsam in Fleischfetzen auf die Erde niederregnen würden, sollten wir der Katastrophe nicht doch noch mit gehörig Dusel entkommen können.
„Habt ihr nicht gehört? Wir sollen in die Kapseln steigen“, mahnte Tikki auf diese gestreng mütterliche Art, die sie gerne an den Tag legte, obwohl sie ein paar Jährchen jünger war und genau wie ich nie eigene Kinder gehabt hatte. Zumindest nicht im klassischen Sinn.
Genetisch betrachtet hatten wir wahrscheinlich ein paar, denn nach der Umsiedelung auf den Mars war es zu einer Selbstverständlichkeit geworden, Eizellen zu spenden. Auch dann, wenn man selbst eine Familie gründen wollte.
Das sogenannte egg sharing sollte uns Menschen daran hindern auszusterben. Denn mit der Fortpflanzungsfähigkeit war es seit dem Pandemienzeitalter nicht mehr weit her. Diversität war in jeder Hinsicht das neue, alles beherrschende Stichwort. Ein immenser Fortschritt und die Chance, alte, ungesunde Gesellschaftsstrukturen, Hierarchiehörigkeit und Clandenken abzulösen. Zumindest, wenn man Menschen wie mich und Tikki fragte.
Ewiggstrige gab es natürlich dennoch. Zu Beginn der Marsbesiedlung hatte ihre Anhängerschaft versucht, sich ein eigenes kleines Königreich in Sektor Epsilon aufzubauen. Doch die Gesetze des neuen Naturalism als politische Maßgabe der Regierung duldeten keine solchen Alleingänge. Alle fünf Sektoren unterstanden einer demokratischen Ratsregierung.
Im Gegensatz zur Naturphilosophie der Erde vor dem Jahrtausendwechsel vereinte der neue Naturalism die materielle Wissenschaft mit der geistigen. Das, was einstmals als übernatürlicher Humbug oder – religiöser gefärbt – als Wunder bezeichnet worden war, fand in den Plaskschen Quantensätzen mittlerweile seine akademische Bestätigung und brachte in der Folge den Durchbruch in der Interstellar-Technologie.
„Countdown für den Eintritt in die Erdatmosphäre“, meldete die AI.
An der Laufbandanzeige in meinem eye screen konnte ich verfolgen, wie die Fähre an Geschwindigkeit verlor und eine Flugbahn zur Erdoberfläche wählte, die uns so weit wie möglich fort von der voraussichtlichen Kollisionsstelle der beiden Raumstationen brachte.
„Vielleicht hat sich die AI verrechnet“, sagte Tikki, die neben mir in der vertikal montierten Formschaumkapsel stand.
„Unwahrscheinlich“, meldete sich Valdis zu Wort.
„Hoffnung scheint für Datenfutzis offenbar ein Fremdwort zu sein“, gab ich zurück.
Der Gamer verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. „Was weißt du denn schon von Hoffnung? Du hast dein Leben doch schon vor Jahren an der Garderobe irgendeiner Bar abgegeben und nicht mehr abgeholt.“
Verdammter, Affe! „Ich lebe vielleicht nicht in der strahlendsten Realität, aber immerhin in der Realität. Ihr Gamer hingegen verbringt eure Tage und Nächte in Simulationen. Ihr geht doch höchstens in euren Träumen mal ein Risiko ein und führt lieber Beziehungen mit 3D-Fraktalen in sensorischen Latexanzügen, statt euch an einen echten Menschen zu wagen.“
Die AI kam Valdis‘ Erwiderung zuvor und schaltete die eye screens genau in dem Moment auf Vollansicht, als das Solarmodul der außer Kontrolle geratenen Raumstation in die Panoramakuppel der Sky-Link-Lounge einschlug. Stahl und Aluminium verbogen sich gleichermaßen, rissen, splitterten und stülpten sich so langsam nach außen, dass es wie eine Zeitlupensequenz aussah. Wie eine gerenderte Simulation einer Aliengeburt. Dichtungsmaterial quoll aus dem Inneren, zusammen mit Kabeln und Teilen der Wandverkleidung.
Gerade als ich aufatmen wollte, weil der große Knall auszubleiben schien, erschütterte eine stumme Explosion die Station und verteilte abertausende Teilchen in den Weltraum. Teilchen, die in Wahrheit mehrere Meter groß waren und auf die Kamera der Fähre zu schossen.
Reflexartig drückte ich mich tiefer in den Formschaum.
„Scheiße“, war alles, was Tikki durch zusammengebissene Zähne hervorbrachte.
Die Gamer gegenüber bewegten die Finger und tippten auf ihren virtuellen Tastaturen die neuen Variablen ins System, während die AI das Notfallprotokoll aktivierte. Die in-eye Sicht schaltete auf die Frontkamera der Fähre um. In einem zweiten, kleineren Fenster war unterdessen zu sehen, wie sich hinter uns die erwartete Katastrophe zusammenballte. Erste Trümmerteile trafen die umliegenden Satelliten – der Anfang eines Kaskadeneffekts, der sich wellenförmig fortsetzte. Immer mehr Trümmer prallten aufeinander, zersplitterten und lösten eine neue, eigene Welle an todbringenden Geschossen aus.
„Mehr Schub!“, rief ich, als die Laufbandanzeige ein Meer aus rot blinkenden Zahlen formte.
„Eintritt in die Atmosphäre in fünf Sekunden“, meldete die AI.
Ein Gewitter aus vorbeischießendem, verglühendem Metallschrott trübte die Sicht. Dann der erste Direkteinschlag! Kleinteile prasselten gegen die Seitenwand der Fähre. Die nötige Kurskorrektur erfolgte so abrupt, dass die Schwerkraft wie eine hundert Kilo schwere Faust auf meine Brust drückte.
Ich keuchte auf und rang nach Atem, während die Fähre – von einem weiteren, heftigeren Einschlag erfasst – ins Schlingern geriet und erneut ein hartes Manöver absolvierte.
Betäubt nahm ich das Schrillen eines Alarms wahr. Das Schott zum Serviceraum schloss sich. Um mich herum zischte es und die Luft wurde knapp. Meilensteine des Lebens waberten durch meinen Verstand. Die erste Erinnerung an den Mars. Ich, kaum drei Jahre alt, die ungewohnt künstliche Umgebung, der fremde Himmel. Eine neue, liberale Welt, in der ich zum hoffnungsfrohen Teenager heranwuchs, bis mein Verstand das Ausmaß der Zerstörung und den wahren Grund für die Flucht zum Mars begriff. Nur 0,1 Prozent der Menschen hatten die Hölle auf Erden überlebt und es in die Evakuierungsschiffe geschafft.
Eine Tatsache, die in mir eine unbestimmte Wut gegen alles und jeden heraufbeschworen hatte, die seither nie ganz aus meinem Leben verschwunden war. Bis heute nicht.
Kurz nachdem wir durch das Wolkenmeer stießen und vor uns die Erdoberfläche sichtbar wurde, streifte uns ein verglühender Satellit, kratzte über die Nase der Fähre und drängte sie ostwärts, fort von unserem Zielgebiet im mediterranen Zentrum des alten Europas.
Die Fähre begann zu rotieren. Ich hörte Valdis ein von Flüchen durchsetztes Gebet sprechen. Die Horizontlinie in meiner in-eye Anzeige kippte zur Seite, mir wurde schwindelig und einen Moment später war ich weg.
Folge 2 findet ihr unten!
Jana Paradigi gehört zum Palais F*luxx-Kollektiv und schreibt seit einigen Jahren Fantasyliteratur. Wir dürfen mit der Genehmigung des Verlags diese Erzählung aus der Anthologie „Facetten der Zukunft“ (Erscheinungstermin 1. Oktober 2022) veröffentlichen. Vielen Dank dafür!
Bild: ©NovelArc