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Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

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Ein Mann namens Martin | 1

Vor ein paar Jahren hatte der Großschriftsteller Martin Walser sein Reisetagebuch im Zug liegen lassen. Silke Burmester hatte es in Gedanken gefunden. Wir veröffentlichen Auszüge aus dem Weltbetrachtungskonglomerat des schusseligen Literaten

Den Bodensee im Blick, in der Welt zuhause – und überall was liegen lassen: Martin Walser in der Nähe seines Wohnortes Nussdorf
Montage: Simone Glöckler

Folge 1

Februar, Brighton
An der Beuge des Ärmels weiß man seine Besucher zu empfangen: Auch zu dieser Jahreszeit spielt das Wetterorchester mit einer beschwingten Ouvertüre auf. Die Sonne versteht als Dirigentin die Haufenwölkchen als auch die in Basstonlage grummelnden Cumulonimbusse an ihrem Platz zu halten. Wie der Ton einer Triangel schickt das Licht seine Strahlen immer wieder durch die Fülle der Wettermusikanten.

Hoffe auf Linderung für meine Bronchien, die mir immer noch zusetzen. Käthe macht Spaziergang am Strand, bin im Hotel geblieben. Das Knie. Heute Abend Essen bei Doris Lawrence. Soll aus meinem neuen Roman vorlesen. Schwanke noch zwischen der Szene, in der sich die junge Studentin Blattschub in seinem Professorenbüro anbietet, und der nach dem Koitus zwischen Konrad Blattschub und der Lektoratsleiterin, als er ihr die Auswirkungen der Ölpest auf die US-Wirtschaft darlegt.

Im Zug nach London
Großraumwagen, jetzt auch hier. Royales Blau im Königinnenreich. Junge Frauen, auf dem Weg ins Freitagabendvergessen. Auch bei diesen Temperaturen darf der Rock die dicken, weißen Beine nur bis über den oft breiten Po bekleiden. Ihre Dekolletés üppig, über der Üppigkeit blühen Rosen, segeln Tauben oder versprechen Worte das große Mehr: „Two for You“. Gestochen unter die Epidermis des Moments. Ein Statement für die Ewigkeit im kurzen Augenblick der Jugend.

März, zu Hause
Die Ausstellung zu meinem Lebenswerk geht nicht recht voran. Habe mich gegen den Plan ausgesprochen, mein Werk durch das bildnerische Werk anderer Künstler begleiten zu lassen. Grass vor allem. Das ist wieder so ein Versuch, sich in den Vordergrund zu drängen, wenn er sein Geklopftes aufstellt und mit seinen billigen Barlach-Imitationen den Raum füllt.

März, Fahrt nach Nürnberg
Habe meine Lesungsunterlagen zu Hause vergessen. Muss im Verlag anrufen, dass sie mir Ersatz faxen.

März, Rückfahrt von Salzburg
Guter Abend gestern. Botho Strauß hat sich als Bewunderer meiner Kunst zu erkennen geben. Nach all den Jahren! Herrliches Entrecote! Mit Möhrenstampf. Selbst der Magen ist in Ruhe statt in Aufruhr.
Wunderbare Zugstrecke durch Hügel erleuchtenden Grüns. Die Jahreszeit frisch und voller Tatendrang einem unverdorbenen Kinde gleich. Wie eine Mutter hat die Natur in satter Liebe ihr blaues Band gewunden. So reich und fürsorglich lässt sie die Blümelein sprießen, auf dass es ist, als reise man durch die blaue Zeit. „Die blaue Zeit“ – guter Titel. Gut auch: „Reise durch die blaue Zeit“. Inhalt: das Übliche.

April, Amsterdam, Hotel
Krämpfe. Alles erschütternde Krämpfe. Der Körper von düsterem Genossen übernommen, der sein Spiel mit mir treibt. Was rauskommt, ist einer Spülung gleich. Habe Lesung abgesagt. Eines der Kinder will mich abholen. Kulturattaché kümmert sich hingebungsvoll um seinen Gast. Doch wie soll man Dichter bleiben, wenn einem zwischen Bett und Toilette die Würde aus dem After prustet?

Mai, Nussdorf, am Bahnhof
Günter kommt zu Besuch. Lange nicht gesehen. Die Verspätung des Zuges gibt mir die Gelegenheit, mich zu sammeln, zu besinnen, zu finden, bevor wir uns im erregten Redeschwall ineinander verlieren. Günter trägt den Wunsch im Gepäck, eine Bodenseefahrt zu machen. Schlage die „Hohentwiel“ vor, sie bietet Dixieland-Fahrten an.
Käthe hatte vorgeschlagen, zur Mainau zu fahren, aber mein Knie bereitet mir ein rechtes Problem. Außerdem gilt es diese Touristenhaufen, diese bunten Grüppchen mit ihren Klingeln am Gehstock zu vermeiden. Also wird es wohl auf zwei Männer in einem Boot mit Jazz hinauslaufen. Freue mich, denn die Felchen sind zur Zeit besonders schmackhaft.

Mai, Meppen
Das Maienkleid mit seinem zarten Blümchenmuster scheint dieses Jahr noch lieblicher als sonst. Der überraschende Bodenfrost der letzten Nächte hat die Blüten noch einmal innehalten lassen, auf dass sie sich nun ganz langsam, einem jungen Mädchen ihrem ersten Freund gegenüber gleich, entfalten. Stolz stehen die Maibäume vor den Gaststätten, prächtiges junges Geäst, in dem die bunten Bänder fröhlich flattern wie die Kräfte der Jugend. Gutes Bild: Maibaum als Symbol der kraftstrotzenden und dennoch verletzlichen Jugend. Vielleicht für „Echtzeitlose“ verwenden. Oder als kurzes Bild in meiner Novelle „Die Krähe vor dem Oktober“.


Die Texte sind zuvor in der taz veröffentlicht worden. Die Langfassung findet Ihr hier

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